Der blinde Masseur - Catalin Dorian Florescu

  • Teodor lebt ein wohlsituiertes Leben in der Schweiz, als ihn ihm Zuge einer klassischen Midlife-Crises die Idee überkommt, in seine Heimat Rumänien zurückzukehren, seine Jugendliebe zu suchen. Mit nicht viel mehr als seinen Kleidern am Leib, seine Mutter im Altersheim zurücklassend, setzt er sich in seinen Audi, und macht sich auf Richtung Osten.
    Schließlich landet er in einem einsamen Tal in einem heruntergekommenen Kurort, wo das einfache Volk seine Staublungen und seine lädierten Knochen zu kurieren versucht. Die Welt, die er hier vorfindet, ist eine ganz andere, als er damals verlassen hat: der Raubtierkapitalismus hat viele reich, aber sehr viele mehr arm gemacht.
    Lediglich der blinde Masseur, Ion, stemmt sich gegen diese Entwicklung, er hortet Bücher, die er von Patienten, aber auch Angestellten der Kurklinik und Dorfhonoratioren auf Kassette sprechen lässt. Und das weniger, weil er sie selbst nicht lesen kann, schließlich kennt er sie alle schon, als vielmehr wegen des Glaubens, dass die Literatur dumme Menschen klüger und gierige bescheidener machen kann.
    Teodor gerät immer tiefer in den Kreis um Ion, sein Schweizer Leben rückt mehr und mehr in den Hintergrund und er versinkt in der Vergangenheit, so dass er langsam aber sicher den Blick für die Realität verliert.


    Florescu gelingt mit diesem Roman eine Gratwanderung: Er ist ein Loblied auf die Literatur, auf die Philosophie und die Macht des Denkens. Und doch wird dieses Loblied immer wieder von Dissonanzen durchbrochen. Da ist die harte Wirklichkeit, an denen die Literaten sich abarbeiten, ohne die Welt substantiell besser zu machen. Die einfachen Geschichten der Bauern dagegen, voller Teufel, Vampire und Hexen, faszinieren und beeinflussen immer noch die Menschen.
    Das Rumänien, das Florescu schildert, ist voller Widersprüche, eigentlich passt da nichts zusammen: Die Bauern, die wie eh und je ihre Scholle beackern und Bisnesmen in dicken Autos, reiche Zigeuner, die dennoch am Rande der Gesellschaft leben, eine vorgebliche Demokratie, in der doch Korruption und mafiöse Strukturen herrschen: hier wird ein Lebensgefühl transportiert, ähnlich, wie ich es bei unserem Trip durch Rumänien selbst verspürte (heute erspar ich euch mal Fotos).

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Danke für diese Rezension, die ich nie geschrieben habe und die ich uneingeschränkt bestätigen kann.
    Als ich damals auf einem Literaturfest Florescu gegenüberstand und um eine Signatur gebeten habe, hat er sich unheimlich gefreut, dass ich als einzige Leserin aus dem Publikum seinen Roman kannte.

  • Ja, stimmt, DraperDoyle, ein wunderbares Buch. Catalin ist ein ganz großartiger Geschichtenerzähler. Mich hat dieses Buch auch sehr fasziniert. Ich habe den Autor persönlich kennen gelernt, als er im Winter hier in Baden-Baden Stadtschreiber war, und bin von seinem Stil einfach hingerissen. Es ist übrigens im Kern eine wahre Geschichte, hat er verraten, er hat den Masseur selber aufgesucht und später oft mit ihm telefoniert, und dieser war begeistert, dass er in einem Buch mitspielen darf. Immer wieder hat er Catalin allerdings gebeten: "Mach mich in deinem Buch bitte nicht zum Opfer". Nun, den Wunsch hat Catalin ihm erfüllt.
    Der Masseur starb leider kurz vor der Veröffentlichung.

  • Eine kleine Perle aus dem Bereich "Bücher über Bücher" ist das!
    Und sie hat mir sehr gut gefallen.


    Die Geschichte ist faszinierend und der Schreibstil fesselnd, wenn auch nicht besonders temporeich. Das brauchen Teodor, der Erzähler, und Ion, der blinde Masseur mit den über 30.000 Büchern allerdings auch nicht.


    Es ist die Geschichte von dem einen, der dorthin zurückkehrt, von wo er einst geflohen ist und dem anderen, der blind revoltiert.


    Es gibt reichlich Literatur, reichlich Schnaps und ganz tolle Sätze.


    Mein Cover finde ich übrigens richtig schön :-)


    Ich vergebe gut und gern 8 Punkte für sehr schöne Lesestunden ohne Kitsch und Schmalz.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“