Karl Blessing Verlag
23. Mai 2011
240 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag
Originaltitel: Les derniers jours de Stefan Zweig
September 1941: Auf der Flucht vor den Nazis trifft der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig mit seiner zweiten Frau Charlotte Altmann in Brasilien ein. Nach längeren Aufenthalten in London und New York hoffen sie hier endlich zur Ruhe zu kommen und die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch ihre Hoffnungen sollen sich nicht erfüllen. Der Zweite Weltkrieg zieht immer weitere Kreise und holt die Exilanten schneller ein als gedacht. Ein paar Monate später sehen Stefan und Lotte nur noch einen Ausweg…
Der französische Autor und Arzt Laurent Seksik unternimmt in seinem Roman den erfolgreichen Versuch, die Gefühls- und Gedankenwelt von Stefan Zweig und seiner Frau Lotte in den letzten sechs Monaten ihres Lebens für den heutigen Leser nachvollziehbar zu machen. Anfangs wirkt die Erzählweise von Seksik etwas distanziert, passt aber vortrefflich zu den gesellschaftlichen Umgangsformen des Bildungsbürgertums des frühen 20.Jahrhunderts und transportiert gerade durch den vermeintlichen Gegensatz zur schockierenden Thematik die emotionalen Aspekte besonders gut. Zweig war ein zurückhaltender und sehr sensibler Mann, der sein Herz nicht auf der Zunge trug. Seine fast drei Jahrzehnte jüngere Ehefrau Lotte vergötterte den großen Schriftsteller und ordnete sich ihm völlig unter. Doch unter der äußerlich so gelassenen Fassade der beiden brodelte es gewaltig. Während der Schriftsteller sein früheres Leben vermisste und von ständigen Schuldgefühlen angesichts des schrecklichen Schicksals so vieler Angehöriger, Freunde und Bekannter geplagt wurde, wünschte sich seine schwer asthmakranke Frau einen Neuanfang, der den beiden eine gemeinsame Zukunft ermöglicht hätte.
Die den Exilanten fast surreal erscheinende brasilianische Umgebung, die ständigen Ängste und Zweifel, aber auch die überaus flüchtigen Momente des Glücks und der Hoffnung, all das fängt Laurent Seksik sehr feinfühlig ein. Die vergangenen Jahre, als Stefan Zweig noch ein in ganz Europa und dem Rest der Welt gelesener und umschwärmter Schriftsteller war, werden kurz umrissen, ebenso die Entwicklung der Beziehung zwischen Lotte und Stefan. In der Regel bin ich selten von Romanen begeistert, die auf historisch belegten Fakten und Personen basieren. Oft entsteht der Eindruck bei mir, dass die jeweilige Handlung und die Charakterisierungen zu wenig mit den ehemals real existierenden Menschen zu tun haben und ihnen somit nicht gerecht werden. Bei "Vorgefühl der nahen Nacht" liegt der Fall jedoch anders. Anscheinend hat sich der Autor eng an historischen Briefen, Zeitungsartikeln, Büchern etc. orientiert, so dass ein sehr glaubwürdiges und nachdenklich machendes Stück fiktiver Literatur über das tragische Ende des jüdischen Ehepaars Zweig und eine furchtbare Zeit in unserer deutschen Vergangenheit entstanden ist. Ob die Zweigs sich in dem Roman wiedererkannt hätten, darf natürlich trotzdem bezweifelt werden, aber das gilt gleichermaßen für jede Biografie. Trotz seines geringen äußeren Umfangs ein großes Buch - tief bewegend, anspruchsvoll, lang nachwirkend und sehr lesenswert!
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