Dörthe Kaiser - Chanson triste

  • Der Inhalt
    Was geschieht mit einem Liebespaar, wenn die Diagnose Krebs die tödlichste aller Scheidemauern aufrichtet: die zwischen Gerade-noch-Lebenden und Jetzt-noch-nicht-Sterbenden? Welcher gemeinsame Raum bleibt? Dörthe Kaiser, die Witwe des deutschen Soziologen Karl Otto Hondrich, erzählt von der Zeit ihres Zusammenlebens: vom Einbruch der Diagnose bis zum Tod ihres Mannes. Im Rückblick lotet sie den Raum aus, den die Krankheit lässt, und die Leere, die nach dem Abschied bleibt.


    Die Autorin
    ist laut Klappentext 1962 geboren, arbeitet als Übersetzerin und Autorin und lebt in Frankfurt am Main. Seit 2001 war sie mit Karl Otto Hondrich verheiratet, der 2007 einer schweren Krebserkrankung erlag.


    Meine Meinung
    Eine Inhaltsangabe, die viel sagt – und natürlich nicht genug sagen kann. Können Worte, ein paar dürre Worte, seien sie Inhaltsangabe, seien sie Buchvorstellung, ein Buch gelebten, erduldeten Leidens widerspiegeln? Appetit sollten die Worte machen, Hunger machen auf ein Buch bestenfalls, Neugierde wecken – aber was heißt das angesichts der Wucht dieses Themas? Und das Buch selber: Können Worte Leid, Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Wut begreiflich machen? Kann sich der Leser einfinden, kann er nachfühlen, wenn er in einer vergleichbaren Situation (noch) nie war? Und wenn er sie kennt, diese Situation, lässt sich die eigene Sprachlosigkeit vielleicht sogar wiederfinden in den Worten des Buches? Und letztlich – was machen diese Worte mit der, die sie gebraucht?


    Dörthe Kaiser und den zu Lebzeiten sehr öffentlichen und nicht unbedingt provokationslosen Karl Otto Hondrich trennte der große Altersunterschied von 25 Jahren, eine lange Ehe war ihnen nicht vergönnt, die Diagnose brach bereits nach kurzer Zeit des Verheiratetseins über das Paar herein. Für mich ist „Chanson triste“ ein überaus berührendes, fast schon schmerzhaft ehrliches Buch über eine sehr intensive Zeit des Zusammenlebens, in dieser Form sicherlich und leider erst ermöglicht durch die Krankheit. Es berichtet vom Einholen der Expertenmeinungen, von den Operationen, den Chemotherapien, vom Auf und Ab, von Hoffnung und getrogener Hoffnung und es erzählt, was für mich wichtiger war, über das Miteinander, das Aneinanderanlehnen, das Mitgehen und -tragen, die Gefühlswelt der Betroffenen. Es reflektiert die Vergangenheit, berichtet vom Kennenlernen, von einigen Freunden und Begegnungen, von Reisen, unter anderem solchen, die noch möglich sind, von den Beschwernissen des alltäglichen Kampfes mit und gegen den Krebs. Und es spricht von der Leere, vom Sich-zurecht-finden-müssen nach dem Tod des Partners.


    Die Autorin berichtet mit einer unglaublichen Offenheit, ohne allerdings die letzte Intimität preiszugeben, und auch Schonungslosigkeit, gegenüber sich als auch dem Leser, von diesen Tagen, Monaten, Jahren. Vielleicht war es ihre Art, die Erkrankung und den Tod ihres Mannes zu verarbeiten; ihre Hilflosigkeit, ihre Angst, auch ihre Wut in Worte zu fassen, mag ihr – so hoffe ich – geholfen haben. Wenn ich als Laie sage, sie schreibe gut, klingt das – auch angesichts des Themas – arrogant, aber ihr Stil hat für mich eine ganz eigene Sogwirkung entfaltet. Dennoch war ich nicht in der Lage, mehr als zehn, zwanzig Seiten auf einmal zu lesen, zu direkt sprach die Autorin mich an, ließ mich teilhaben am Leben und Leiden der beiden. Dabei kam bei mir nie das Gefühl auf, voyeuristisch zu lesen. Dörthe Kaiser schreibt, dass sie sich als Gefangene der Krankheit, zum Schluss auch als Gefangene der Wohnung fühlte; mich hat sie beinahe zum Gefährten dieser Gefangenschaft gemacht, ungelesen, abgebrochen, weil zu nahe kommend, hätte ich das Buch aber nie zur Seite legen können.


    Viele Fragen hat das Buch für mich aufgeworfen, Fragen, die Gedanken an de Ridders „Wie wollen wir sterben?“ in mir aufkommen ließen, Fragen nach dem Zuviel. „Nützte hohes Reflexionsvermögen ohne solides medizinisches Grundwissen in einer Situation? Oder war es eher kontraproduktiv?“ (Seite 40) Kann es das geben, ein Zuviel des Wissen, kann zu viele Ärztmeinungen geben, weil sie sich teils so sehr widersprechen, wann ist es zu viel an OPs, an Chemotherapien, vielleicht sogar zu viel Klammern an das, was noch das eigene Leben ausmacht. „... was (ist) erträglich … an Verstümmelungen, die man sich zumutet, um sein Leben zu erhalten.“ (Seite 112) Kann man zu viel in Gang setzen, weil man ist, der man ist? Erleichtern Intellekt, Bildung, Wissen, Können, Reputation Situation und Möglichkeiten, erschweren sie Annehmen der eigenen Sterblichkeit und des Sterbens?


    „Chanson triste“ ist ein Buch, das ich nicht so schnell wieder in die Hand nehmen kann, zu sehr hat es mich (be-)getroffen, dennoch wird es mir aufgrund der unglaublichen Intensität des Schreibens Dörthe Kaisers unvergessen bleiben.


    Erwähnung sollte noch finden, dass Gedichte von Hilde Domin und Zitate aus Büchern, beispielsweise Joan Didions „Das Jahr des magischen Denkens“ enthalten sind und den Text bereichern. Gleiches gilt für Texte von Hondrich selber, dessen „Notate vom Leben und Sterben“ meiner Meinung nach dringend veröffentlich werden sollten.


    Fazit
    Ein starkes Buch einer starken Frau über ein Thema, das mit zu den schwierigsten überhaupt zählt: „Abschied von meinem Mann“ (so der Untertitel).

  • Herzlichen Dank für diese sehr interessante und sehr intensive Rezi. Ich habe mir den Buchtitel notiert - ob ich das Buch auch lesen werde - ich würde es gern, aber wollen und können sind oftmals zwei verschiedene Paar Schuhe.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.