Im Labyrinth der Nacht – Graham Swift

  • Graham Swift: Im Labyrinth der Nacht – Roman, OT: Tomorrow, Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk, München 2011, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24826-6, Softcover/Klappenbroschur, 317 Seiten, Format: 13,5 x 21 x 2,8 cm, EUR 14,90 (D), EUR 15,40 (A).


    „(...) ich kann wirklich nicht vorhersagen – und ich glaube auch nicht, dass ich das Recht dazu habe – wie ihr reagieren werdet. Ich stelle mir vor, wie eine Bombe explodiert und wie alles auf seltsame, prekäre, unheilschwangere Art und Weise bleibt, wie es war. Ein Blindgänger. Sie kann immer noch hochgehen, diese Bombe, nächste Woche, die Woche darauf, jederzeit.“ (Seite 201)


    London, im Juni 1995: die Kunsthändlerin Paula Hook (49) und ihr Mann, der Biologe Mike (50), haben sich vor Jahren geschworen ihren Zwillingen Kate und Nick an deren 16. Geburtstag die Wahrheit über ihre Herkunft zu sagen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Am nächsten Morgen wollen die Hooks den beiden Teenagern reinen Wein einschenken.


    Mike schläft, doch Paula liegt wach und denkt darüber nach, was sie ihren Kindern alles sagen will. In einem 317 Seiten langen inneren Monolog übt sie ihre Worte für den kommenden Tag. Sie rekapituliert, reflektiert, resümiert, assoziiert – und schwadroniert.


    Wir können nur hoffen, dass die Rede so, wie Paula sie hier probt, nie gehalten werden wird. Denn sie strapaziert schon sehr die Geduld des Publikums. Wir erfahren, wo Paulas Großeltern begraben sind und warum ... wie sich ihr Vater Douglas Campbell, Richter am Obersten Gerichtshof, durch drei Ehen mit ungeeigneten Partnerinnen finanziell ruiniert hat ... wie sie 1966 in Brighton ihren späteren Mann Mike kennen gelernt hat, als sie beide an der Sussex-Universität studiert haben ... wie sich ihr Sexleben gestaltet ... wie sie schließlich geheiratet haben und aus dem flippigen Hippiepärchen mit der Zeit ein biederes Vorstadtehepaar geworden ist.


    Das ist ja alles gut, recht und schön, aber wir wollen doch wissen, was mit den Kindern ...


    Mikes Forschungen über Schnecken sind nicht dazu angetan, sich jemals finanziell auszuzahlen. Also nimmt er das Angebot von „Onkel“ Tim an, einem alten Freund der Familie, und wird zunächst Mitherausgeber eines populärwissenschaftlichen Magazins. Später übernimmt er es, erweitert die Produktpalette und führt das Konzept zum Erfolg - was ihm kaum jemand zugetraut hätte. Paula, die Kunstgeschichte studiert hat, arbeitet für einen Londoner Kunsthändler und ist häufig auf Geschäftsreise.


    Während die Phantasie des Lesers Purzelbäume schlägt und er sich überlegt, was um Himmels Willen mit den Zwillingen los sein könnte, erzählt Paula von den Kriegserlebnissen ihrer Schwiegereltern, von ihrem Berufsalltag, ihrem Kater Otis und dem örtlichen Tierarzt. Sie überlegt, ob es eine gute Idee war, den Familiennamen ihres Mannes anzunehmen und grübelt darüber nach, wie die Kinder wohl auf die Enthüllungen morgen reagieren werden.


    Der Leser trommelt ungeduldig mit den Fingern und denkt: „Mensch, Paula, jetzt mach mal endlich Butter bei die Fische! Sind die Kinder nun geklaut, geklont, gefunden oder illegal adoptiert worden? Sind sie vielleicht in Wahrheit die Nachkommen von Terroristen, Verbrechern oder irgendwelchen minderjährigen Verwandten?“


    Aber Paula, beziehungsweise der Autor, pfeift auf des Lesers Ungeduld. Sie erzählt und erzählt und erzählt – nur nicht das, was man wissen will. Gut, die Tierfreunde unter den Lesern werden berührt sein von der Liebe und Fürsorge der Eheleute Hook für ihren schwarzen Kater Otis, ein Thema, das in dem Buch breiten Raum einnimmt. Aber das bringt uns in keinster Weise dem Geheimnis um die Kinder näher.


    Wenn wenigstens die Geschichten über Paulas Sippschaft so unterhaltsam wären, dass man sich sagen könnte: „Okay, vergiss das Familiengeheimnis und amüsiere dich einfach über die Abenteuer dieses skurrilen Haufens!“ Aber nein! Die Hooks und die Campbells sind bestenfalls von durchschnittlichem Interesse, um nicht zu sagen: stinklangweilig.


    Manchmal gibt Paula auch Informationen preis, von denen man lieber nicht möchte dass ihre Teenie-Zwillinge sie zu hören bekommen. So hip kann kein Haushalt sein, dass sich die Kinder im Detail für das voreheliche, eheliche und außereheliche Sexualleben ihrer Eltern interessieren! Und auch die näheren Umstände der eigenen Zeugung möchte sich wahrscheinlich niemand so genau vorstellen. Kann ja sein, dass Paula das alles gerne erzählen möchte. Aber doch nicht ihren Kindern!


    Erst nach über 200 Seiten lässt sie endlich die Katze aus dem Sack. (Nein, nicht Kater Otis!) Inzwischen hat sich der Leser schon selber zusammengereimt, worin wohl das lange angekündigte Geheimnis bestehen dürfte. Der erwartete große Knalleffekt bleibt aus – es macht nur leise „pffffft“. Und komischerweise wird’s jetzt, da Paula aufhört, um den heißen Brei herumzulabern und uns mit faden Geschichten über Kindheitserinnerungen, wunderliche alte Onkels und zähe Kriegsbräute auszubremsen, tatsächlich noch interessant. Sie macht sich ein paar kluge und bemerkenswerte Gedanken über Eltern, Kindern und Familie im Allgemeinen.


    Auch wenn es im Konzept des Romans nicht vorgesehen ist, würde man jetzt doch gerne erfahren, wie die Zwilligene auf die Eröffnung der Eltern reagieren. Wenn sie tatsächlich so cool und gleichgültig sind, wie im Buch beschrieben wird und nicht die Geduld verlieren, ehe Paula und Mike zum Punkt kommen, zucken sie vielleicht nur mit den Schultern oder sagen: „Hör auf, das ist ja widerlich!“


    Was die Wahrheit für sie bedeutet, erfassen sie vermutlich erst nach und nach. Ob sie dann wohl mit ihren neuen Erkenntnissen hausieren gehen? Oder werden sie zu stillen Mitwissern der Ereignisse und tragen fortan dazu bei, das Lügengebäude weiter aufrecht zu erhalten?


    Dass man sich solche Gedanken macht, zeigt vielleicht, dass das Buch nicht völlig für die Katz ist – wenn auch gänzlich ungeeignet für Ungeduldige.


    Womöglich besteht auch nur ein Missverständnis zwischen Verlag und Verbraucher: Aufgrund von Promotion und Klappentext erwartet der Leser die Enthüllung eines ungeheuerlichen, dramatischen Familiengeheimnisses. Er ist also auf eine Art Triller eingestellt und nicht auf die Lebenserinnerungen und philosophischen Betrachtungen einer englischen Vorstadt-Mutti mittleren Alters. Und diese Diskrepanz führt zu enttäuschten Erwartungen.


    Der Autor
    Graham Swift, geboren am 4. Mai 1949 in London, arbeitete nach dem Studium in Cambridge und York zunächst als Lehrer. Seit seinem Roman „Waterland“, der mit Jeremy Irons verfilmt wurde, zählt er zu den Stars der britischen Gegenwartsliteratur.


    Die Übersetzerin
    Barbara Rojahn-Deyk, geboren 1936 in Berlin, hat sich nach einem Studium der Anglistik und Germanistik als Übersetzerin moderner englischsprachiger Literatur einen Namen gemacht.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

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  • Im Labyrinth der Nacht – Graham Swift


    Dtv, 2011,320 Seiten


    OT: Tomorrow
    Übersetzt von Barbara Rojahn-Deyk


    Kurzbeschreibung:
    Eine Sommernacht. Die Zwillinge Kate und Nick schlafen den unbeschwerten Schlaf der Ahnungslosen, während Paula, ihre Mutter, in einem anhaltenden, angstvollen Monolog die Geschichte der Familie heraufbeschwört. Mit dem nächsten Morgen, erfahren wir, bricht ein Tag des Gerichts an: Wenn sie sechzehn sind, so haben die Eltern beschlossen, werden die Kinder eine Wahrheit erfahren, die das Glück, die Zärtlichkeit, die Vollkommenheit ihres gemeinsamen Lebens zunichtemachen wird. Die Schatten der Nacht verwischen für Paula die Grenze zwischen Furcht und Intuition, und auch als es endlich Tag wird, ist Swifts raffiniertes Spiel um Fiktion und Wahrheit noch nicht zu Ende.


    Mein Eindruck:
    Den Originaltitel Tomorrow halte ich für gelungener als „Im Labyrinth der Nacht“, was auf Thriller oder ähnliches verweisen könnte. Dieses Buch ist aber ein Gesellschaftsroman, der in der Bibliothek in der Rubrik Familie eingeordnet wird.


    Graham Swift habe ich bei einer Lesung als ruhigen, aber eloquenten und intelligenten Schriftsteller empfunden. Das gilt auch für dieses Buch, das aus einem 300 Seiten (allerdings sehr groß gedruckt) langen Monolog besteht. Eine Frau erzählt eine ganze Nacht lang, innerlich an ihre 16jährigen Zwillinge gerichtet, von einem Familiengeheimnis.
    Dieses Stilprinzip hält Graham Swift konsequent bis zum Ende durch. Allerdings wird nach 2/3 das Geheimnis enthüllt und daher nimmt die Spannung gegen Ende rapide ab.
    Ein weiteres Problem besteht darin, dass ich als Leser dieses Geheimnis für nicht so relevant halte, das das Buch mich wirklich tief berührt hätte.
    Auf der Habenseite stehen die wirklich guten Beschreibungen der 60ziger Jahre in Großbritannien und wie sich das Paar dieses Romans im Laufe der Jahre entwickelt.


    Insgesamt ein abschnittsweise leicht enttäuschendes Buch, aber trotzdem in den guten Momenten doch lesenswert. Ich gebe 6-7 Punkte.

  • In der Nacht vor dem 16. Geburtstag ihrer Zwillinge Kate und Nick richtet sich ihre Mutter in einem ausufernden inneren Monolog an ihre Kinder. Sie und ihr Mann hatten verabredet, an diesem Tag ein Familiengeheimnis zu lüften. Die Eltern sind zum Zeitpunkt der Handlung 50 Jahre alt (1945 geboren) und gehören damit noch zur Generation des Autors, der Jahrgang 1949 ist. Die umständliche Art, in der die Mutter der Kinder sich vom Thema weg zu bewegen scheint, anstatt direkt darauf zuzugehen, kann einen beim Lesen auf falsche Fährten führen. Wenn sie von „eure Mutter“ anstatt von "ich" spricht, könnte damit die mögliche leibliche Mutter der Kinder gemeint sein. Ebenso gut könnte es eine Marotte der Icherzählerin sein, die mich jedoch daran zweifeln ließ, dass diese Frau wirklich mit zwei 16-Jährigen in einem Haushalt lebt. Wäre sie wirklich Mutter, hätte sie vermutlich in den Auseinandersetzungen der Pubertät längst erkannt, dass es bei ihrem Aufklärungsgespräch nicht darum gehen wird, was sie über die Geschichte der 60er Jahre erzählen will, sondern um das, was ihre Kinder interessiert. Vielleicht spricht sie ja zu fiktiven Kindern, die erst gar nicht zur Welt kamen, dachte ich.


    Unterm Strich bin ich verwundert, dass sich eine Frau im Jahr 1995 so verschroben ausgedrückt haben soll.


    5 von 10 Punkten