Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

  • Dieses Sachbuch, das sich schon halb auf einer Gratwanderung hin zu einer literarischen Kurzgeschichtensammlung befindet, war mir schon länger ein Begriff. Jetzt, wo ich es endlich gelesen habe, kann ich sehr gut verstehen, warum es außerdem Eingang in das „Buch der 1000 Bücher“ gefunden hat! Einfach einzuordnen ist es jedenfalls nicht, vereint es doch Elemente aus Fallstudie, Melodram, Geschichte und philosophischer Betrachtung.


    In der breiten Öffentlichkeit dürfte der Autor, Oliver Sacks, ein britisch-amerikanischer Neurologe, durch ein anderes Werk noch viel bekannter sein; nämlich durch „Awakenings – Zeit des Erwachens“, ebenfalls ein Sachbuch, das allerdings in seiner verfilmten Form (mit Robert De Niro und Robin Williams) zu Weltruhm gelangte. Im „Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ haben wir es nun nicht mit einem, sondern gleich 20 Fällen von neurologischen Absonderlichkeiten zu tun. Die „Geschichten“, wie man sie eigentlich nennen müsste, umfassen eine beeindruckende Spannbreite menschlicher Erfahrung, und der Autor versteht es sehr geschickt, anhand dieser teils verstörenden, teils dramatischen Fehlentwicklungen aufzuzeigen, was Menschlichkeit überhaupt ausmacht – und wo, wenn überhaupt, die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit liegt.


    Die Fälle sind 4 verschiedenen Bereichen zugeteilt, in die das Buch gegliedert ist: „Ausfälle“, „Überschüsse“, „Reisen“ und „Die Welt der Einfältigen“. Oliver Sacks macht das Buch nicht nur durch seinen sehr lesbaren Schreibstil zugänglich, sondern auch durch sein Bemühen um fachliche Genauigkeit. Jedem Abschnitt ist eine Einleitung vorangestellt, in der der Forschungsstand sowie die eigene Meinung (!) des Autors zum jeweiligen Themengebiet präzise referiert wird. Ferner endet jede (!) Fallbeschreibung mit einem Nachwort, in welchem der Leser Ausblicke auf den weiteren Verlauf der Krankengeschichte, oder aber weiterführende Gedanken zu ähnlichen Fällen erhält.


    Diese Beschreibung macht zunächst einen sehr nüchternen Eindruck, nicht wahr? Aber dem möchte ich unbedingt widersprechen! Ich würde jedem Leser, der auch „Awakenings“ faszinierend fand, und der sich auch nur entfernt für die Funktionsweise des menschlichen Geistes und Gehirns interessiert, dringend zur Lektüre dieses Buches raten! Man wird eben nicht nur informiert, sondern, so tragisch es teilweise auch ist, blendend unterhalten, zum Nachdenken angeregt, und in seiner eigenen Weltsicht gründlich aufgerüttelt.


    Die besondere Leistung des Autors besteht eben darin, dass er alle seine Patienten zuallererst als Menschen wahrnimmt und porträtiert, nicht als „Fälle“. Obwohl die Geschichten unterschiedlich lang sind, nimmt sich Sacks in jedem Falle Zeit, dem Leser seine Bekanntschaft mit der fraglichen Person von Anfang an zu schildern. Er lässt auch Fragen und Bedenken nicht aus, sowie diejenigen Stellen, an denen selbst die Medizin nicht weiter wusste. Und siehe da – so manches Mal haben die Betroffenen selbst einen nicht unerheblichen Teil zum Ausgang ihrer eigenen Geschichte beigetragen. Teils machten sie Vorschläge zu ihrer eigenen Behandlung, teils wehrten sie sich sogar dagegen, ihrer „neuen Fähigkeiten“ wieder beraubt zu werden! Diese Stellen zählen mit zu den eindringlichsten des ganzen Buches, weil hier deutlich wird, dass Glück und Wohlbefinden nicht immer in der Kategorie des „Normalen“ und „Gesunden“ messbar sind.


    Man erfährt so „ganz nebenbei“ eine unglaubliche Fülle an medizinischem Fachwissen, und den damaligen Forschungsstand – das Buch erschien zuerst 1985. Es werden so unterschiedliche Gebiete behandelt wie der Verlust des Körpergefühls oder des halben Gesichtsfeldes, der Verlust der Fähigkeit zum Wiedererkennen menschlicher Gesichter (deswegen die Verwechslung zwischen Frau und Hut!), Radio-Hören im eigenen Kopf, das Steckenbleiben in einer bestimmten Zeit, das Tourette-Syndrom, sowie Autisten mit besonderen Fähigkeiten (besonders Zahlen und Musik). Gleichzeitig liegt hier mein einziger Kritikpunkt an dem Buch, weswegen ich auch nur 4 Sterne verleihe und nicht 5: so manches Mal hat man doch den Eindruck, der Autor habe eine Lobhudelei auf in Fachkreisen berühmte Kollegen verfasst – denn die erwähnt und zitiert er ausführlich.


    Das sollte aber wirklich niemanden davon abhalten, zu diesem Buch zu greifen! Der Stil ist ganz ähnlich wie bei Ferdinand von Schirach, und ich möchte nicht ausschließen, dass dieser Autor sich bei Oliver Sacks inspiriert hat. Die Methode ist dieselbe: echte Fälle in eine flüssig lesbare und dramatisch wirkungsvolle Form zu bringen, die einen großen Leserkreis anspricht und gleichzeitig literarisch wertvoll ist.