Günter Wallraff, Ganz unten (Originalausgabe von 1985)

  • Dieses Buch habe ich als Teil meines diesjährigen, mir selbst auferlegten Lesepensums gelesen - ich wollte einmal 30 Klassiker von meiner Liste streichen, die schon zu lange in meinem Regal verstauben. Nun, der erste Schritt ist getan. Ich kann nun verstehen, warum dieses Werk berühmt wurde, warum es Aufsehen erregte, und warum es sogar im "Buch der 1000 Bücher" landete. Und dennoch, zu mehr als drei Sternen mag ich mich nicht hinreißen lassen. Denn so bin ich nun mal als Leser - ich lasse mich zwar vom "Ruf" eines Buches durchaus leiten, kann aber die rein literarische Beurteilung, also die "Lesbarkeit" an sich, nicht völlig außer acht lassen.


    Sicher, die Inhalte sind leider nach wie vor brisant und erschütternd, und auch ich habe an manchen Stellen fassungslos den Kopf geschüttelt. Günter Wallraffs Mut ist sehr zu bewundern, zumal man weiß, dass er in diesem Stil weitergemacht hat - trotz zahlreicher Angriffe.


    Doch Kritikpunkte habe ich eben auch - und die beziehen sich rein auf das Buch, "als Buch". Nicht auf die Inhalte! Erstens: Wallraff hat sich, als Türke "Ali" getarnt, in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen umgesehen. Er war bei McDonald's, auf einer politischen Kundgebung, im Fußballstadion, bei der katholischen Kirche, bei der Pharmazie - und als Leiharbeiter im Stahlwerk. Doch leider werden diese verschiedenen Bereiche im Buch nicht gleich gewichtet. Ich persönlich hätte beispielsweise die Arbeit bei McDonald's am interessantesten gefunden, doch die wird auf kaum 20 Seiten abgehandelt. Auch die Kundgebung und das Fußballstadion bekommen nicht sehr viel mehr Raum. Den weitaus größten Teil des Buches über beschreibt Wallraff seine Erlebnisse als Leiharbeiter, der unter unmenschlichsten Bedingungen Staub und Schlacke an Hochöfen und Förderbändern entfernen muss. Doch warum? Hat er hier die meiste Zeit verbracht? Hat er hier am meisten Freunde gefunden? Der Leser erfährt es nicht. Und das finde ich ausgesprochen schade. So kann ich nur vermuten, dass er nach persönlichen Vorlieben gegangen ist, was er am ausführlichsten schildern soll. Doch das kann für mich nicht der Sinn einer wirklichen journalistischen Reportage sein.


    Überhaupt finde ich, dass die zeitlichen Angaben völlig vage bleiben. Sicher verstehe ich, dass er seine ehemaligen Kollegen hat schützen wollen. Doch es wird nicht einmal ansatzweise der Versuch gemacht, einmal konsequent seine eigenen Lebensumstände während dieser Zeit, einen Tagesablauf, oder seine tägliche Maskerade zu schildern. Viele Details bleiben mir einfach unklar. Wenn er beispielsweise als Stahlarbeiter Doppelschichten hat fahren müssen, aber ständig Perücke und Schnurrbart trug, dann verstehe ich nicht, wie er nicht viel früher aufgeflogen ist. Das muss doch, bei all der Hitze und dem Dreck, verrutscht sein...?? Und die gefärbten Kontaktlinsen, bei all dem Staub in der Luft, wie ging das überhaupt?? Und nur ein einziges Mal soll ein Kollege etwas gemerkt haben, als er sich Notizen machte. (Man bedenke, es war in den 80er Jahren, da gab es noch nicht so viele elektronische Medien!) Das finde ich einfach unglaubwürdig. Es gibt noch weitere Fragen, die nicht im Buch geklärt werden. Wie war das Verhältnis zu den Nachbarn? Was war mit dem Kontakt zur eigenen Familie? zum Verlag? Wann und wie hat er sich seinen Kollegen zu erkennen gegeben? und so weiter.


    Ja, ich finde, dass er sich um einen der wichtigsten Teile im Buch tatsächlich "drückt". Er hatte es geschafft, aus dem Dreck des Stahlwerkes aufzusteigen, zum Chauffeur des Chefs der Leiharbeiter-Agentur, Adler. Doch er schildert eben nicht, wie er aus dieser Nummer wieder rauskam! Und ob Adler ihn enttarnte, oder nicht. Ob er hinterher verklagt wurde, oder nicht. Wie die Kollegen reagierten. Das hat mich doch gewurmt! Das Buch endet einfach, und zwar mit einer gestellten Episode, eine Falle, in die sie diesen Adler tappen lassen. Zusammen mit zwei Schauspiel-Kollegen fingiert Wallraff einen hochgefährlichen und natürlich illegalen Auftrag in einem Atomkraftwerk. So gerade eben schaffen sie es, dass Adler zwar annimmt, er also überführt ist, sie den Auftrag aber dennoch nicht ausführen müssen. Hm, doch wie kam überhaupt der Kontakt zu diesen Schauspielern zustande? wie konnte Wallraff überhaupt Zeit dafür haben, sie zu kontaktieren? Hatte er ein eigenes Telefon in dieser Bruchbude in der Dieselstraße?? Fragen über Fragen, die wieder im Raum stehen bleiben.


    Als letzten Kritikpunkt möchte ich noch die Sprache erwähnen. So leid es mir tut, aber auch wenn man erschütternde Inhalte schildert, dann sollte man als Journalist so professionell sein, die Geschehnisse für sich sprechen zu lassen, und nicht den vorgeführten Personen die eigene Meinung (in Klammern) in den Mund zu legen. Das gehört sich erstens nicht, und zweitens hätte es sich auch erübrigt. Besonders bei der Schilderung der Episode mit der Katholischen Kirche, als sich "Ali" angeblich taufen lassen will, fiel mir das auf. Wallraff konnte es einfach nicht lassen, jedem Pfarrer in Klammern seine eigene Interpretation der Antworten beizugeben. Das finde ich schlicht störend, und unprofessionell. Und außerdem - dieser angeblich türkische Akzent, den er sich da zugelegt hat, der war absolut grausam, und in keinster Weise glaubwürdig! Na, vielleicht sind wir Heutigen da auch besser drauf eingestellt; wir haben eben doch schon mehr Umgang mit ausländischen Mitbürgern und ihrer Sprache, so etwas fällt uns auf. Aber es will mir einfach nicht in den Kopf, dass damals sogar gebildete Leute auf diese angebliche Ausländersprache hereingefallen sind.


    Insgesamt gesehen, würde ich das Buch durchaus als Klassiker weiterempfehlen - aber ich würde auch dazu sagen, aus welcher Zeit es stammt, und dass die Geschichte der Reportage in Buchform seit damals deutliche Fortschritte gemacht hat.


    Edit: ISBN der Ausgabe von 1990 eingesetzt, damit das Buch auch über das Verzeichnis zu fiden ist. LG JaneDoe

  • Als Klassiker würde ich dieses Buch aber nun wahrlich nicht einstufen.
    Sicher mag aus heutiger Sicht die eine oder andere Kritik berechtigt sein, aus damaliger Sicht aber wäre diese Kritik nicht angebracht gewesen. Wallraf ist damals neue Wege gegangen, Wege die sich viele einfach nicht vorstellen konnten und die die Tür zu einem "neuen" Journalismus aufgestossen haben. Natürlich kann man ein Buch auch mit der Arroganz der heutigen Generation beurteilen - in den Achtzigern des vorigen Jahrhunderst hätte wohl niemand dieses Buch als "unprofessionell" bewertet. Aber es ist wie oftmals im Leben - Dinge bzw. Zeiten die man nicht selbst sehr bewusst erlebt hat, kann man im Nachhinein und anhand von Berichten aus dritter Hand wohl kaum wirklich angemessen beurteilen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Angenehm, mein Name ist Niemand. Ich habe das Buch in der Erstauflage gekauft und habe mir fast genau die gleichen Fragen gestellt- und nicht nur ich. Die Fragen hatte Herr Wallraff aber ausreichend Gelegenheit zu beantworten, wurde er doch durch die wenigen damals für solche Zwecke vorhandenen Fernsehformate genauso herumgereicht wie das heute vom Morgenmagazin bis Will durch alle Sender, Formate und Talkshows geschieht.


    Ausserdem ist das Buch tatsächlich ein Klassiker - ein Klassiker auf dem Gebiet des investiven Journalismus, wenn auch "Der Mann, der bei Bild Hans Esser war" diesen Anspruch noch berechtigter stellen könnte.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend Das Dritte Licht Claire Keegan :lesend Kirk A. Denton The Columbia Companion to modern Chinese Literature

  • Ich sehe dieses Buch nach wie vor nicht als Klassiker und halte die darüber hinaus die geäußerte Kritik weiterhin für nicht angebracht. Gerade bei der Beurteilung eines Buches müssen die damaligen Lebensumstände mit einfließen, das scheint bei dem Eingangsbeitrag aber offensichtlich unterblieben zu sein.


    Zudem hatte sich Wallraff erst nach vielen Jahren zu seinen Büchern öffentlich geäußert - nicht wie heute, wo man die Autoren quasi schon bei der Drucklegung durch die verschiedenen Formate schleift.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Also nagele mich bitte nicht mehr auf einzelne Äußerungen fest, aber ich erinnere mich noch genau, dass er mehrfach vorgeführt hat mit wie wenigen Handgriffen aus Günther W. Ali wurde, eine Verkleidung mit primitivsten Mitteln. Nicht zu vergessen, dass Leiharbeit damals noch ein Nischendasein führte und nicht wie heute zum Regelarbeitsverhältnis mutiert war. Die Frage nachder Gewichtung z.B. hat damals meiner Erinnerung noch niemand aufgeworfen, Stahlwerk war am interessantesten. Auch wenn McD noch unter seinen Anfangsproblemen (Horst Stern) zu leiden hatte.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend Das Dritte Licht Claire Keegan :lesend Kirk A. Denton The Columbia Companion to modern Chinese Literature

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