Michael Ende zu lesen, ist für mich genau so, wie in ein Kaleidoskop zu schauen. Keine Lektüre gleicht der anderen, und auch dieses Mal habe ich wieder etliche neue Details entdeckt.
Ich glaube, dass der Autor in seinen Kurzgeschichten unglaublich viel von sich selber versteckt, sowohl sich als Künstler, als auch seine Überzeugungen. Allerdings muss man da schon genauer "hinlesen"! In der Geschichte "Einer langen Reise Ziel" beispielsweise kommt "der wissenschaftliche Zeichner und Maler Emanuel Merkel aus München, der sich schon durch etliche Veröffentlichungen eine gewisse Bekanntheit erworben hatte" vor - das ist eindeutig Ende selber! Ironischerweise stirbt er dann im Verlauf der Geschichte.
Auch in anderen dieser Geschichten vermeinte ich Anklänge an die Person des Autors zu entdecken - wie Iwri, der Mann aus dem Schattenvolk, der als einer der Wenigen eine äußere Wirklichkeit zu erspüren glaubt, oder der Traumweltreisende Max Muto. Sie alle spiegeln ein wenig das Selbstverständnis Michael Endes wider, der zumeist unverstandene, aber doch genial begabte Künstler und fantasivoller Fabulierer.
Auch die Dinge, von denen hier geschrieben wird, lassen ein wenig von der Weltsicht Endes erraten. Es geht um Themen wie "Was ist Realität" "(Der Korridor des Borromeo Colmi"), "die Natur des Bösen" (Das Haus an der Peripherie), eine ironisch-verspielte Charakterisierung der Italiener, bzw. der Einwohner Roms ("Zugegeben etwas klein"), die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft ("Die Katakomben von Misraim"), "was ist freier Wille" ("Das Gefängnis der Freiheit"), und etliches mehr.
Sicher mag man die Atmosphäre in etlichen dieser Geschichten ein wenig gruselig finden, und auch sind die Enden oft in der Schwebe oder vielfach interpretierbar. Aber ich finde die erzählerische Vielfalt einfach unglaublich, sehr virtuos beschrieben, und in jedem Falle überzeugend dargestellt. Für jede Geschichte "erfindet" Ende einen ganz eigenen Ton: sei es ein Leserbrief, ein orientalisches Märchen, eine Parabel, oder eine mystische Biographie - alles gelingt ihm mit einer beeindruckenden Souveränität.
Mit diesem Buch, das ich vor vielen Jahren eher zufällig entdeckte, hat sich Michael Ende für mich endgültig als ernstzunehmender Schriftsteller auch und gerade für Erwachsene etabliert. Sicher kein literarisches Fast Food, dafür aber, was die Fantasie betrifft, gehaltvolle Vollwertkost.