Kurzbeschreibung (aus dem Buch):
Der Roman "Das weiße Kamel" entfaltet vor dem düsteren Hintergrund der vierziger Jahre eine märchenhafte Gegenwelt, die in der Verbindung von episch-orientalischer und moderner collagenhaft-assoziativer Erzählweise höchste poetische Ausdruckskraft erreicht. Das Leben und Treiben im Altstadtviertel Bakus, der Hauptstadt Aserbaidshans, beschwört der sich an seine Kindheit erinnernde Alekber als verlorenes Paradies. Für den kleinen Alekber, der beim Anblick eines amerikanischen Füllfederhalters, diesem Wunderding von einem anderen Stern, beschließt, später einmal Bücher zu schreiben, sind die mystischen Geschichten vom weißen Kamel die Quelle seiner unstillbaren Neugierde.
Über den Autor:
Elçin, geboren 1943 als Sohn des Schriftstellers Ilyas Efendiyev in Baku, Aserbaidshan, wurde mit Erzählungen, Novellen und literaturkritischen Arbeiten bekannt. Sein erster Erzählband, "Eine von tausend Nächten", erschien 1966. Nach der Veröffentlichung weiterer Erzählungen (u.a. "Der Zug. Picasso. Latour. 1968", "Hotel Bristol", "Ein Autounfall in Paris") erhielt er während der Breschnew-Ära zwei Jahre Schreibverbot. Er übersetzte klassische und moderne Weltliteratur ins Aserbaidschanische. Elçin lebt in Baku.
Meine Meinung:
Ein Reisender wanderte auf dem weißen Kamel durch die Wüste. Das Kamel bewegte sich Schritt für Schritt ohne Eile geradeaus und eines Morgens wurde dem Reisenden klar, dass es die Eintönigkeit der Wüste, der Kamelschritte und des Sonnenaufgangs schon vor tausend Jahren gegeben hatte und auch noch in tausend Jahren geben werde. Unzählige Male durchschritt der Reisende mit dem weißen Kamel die Wüste und ging seinen Geschäften nach, bis das Kamel eines Tages verschwand. Der Reisende erkannte, dass es nicht gestohlen sondern davongelaufen war, denn da waren nur die großen Kamelspuren zu sehen, die wie Stempel in den Sand gedrückt waren und sich schließlich am Horizont verloren. Da wurde der Reisende sehr traurig und dachte bei sich: Ach, wäre ich doch nur mit dem weißen Kamel fortgegangen ...
Solche Geschichten erzählt Balakerim den Kindern des Viertels und blickt mit verträumten Augen in die Ferne. Dann nimmt er seine Flöte aus der Tasche seiner gelben Jacke und spielt Lieder, die nur er kennt. Eines der Kinder ist der kleine Alekber. Er liebt Balakerim und dessen Flöte, den Maulbeerbaum, unter dem Balakerim sitzt, die sechs Söhne der Nachbarin Harim Hala, seine Trommelspielzeuge, die gerösteten Sonnenblumenkerne, die er manchmal geschenkt bekommt, den Waggonduft, der dem Gepäck seines Vaters entströmt, wenn er von einer Reise zurückkehrt und seine schöne Mutter Sona. Das Viertel liegt in der Altstadt von Baku, die Bewohner leben in dörflicher Idylle, helfen einander und kümmern sich zusammen um die Armen und Alten, auch wenn sie selbst nur wenig haben.
Dann beginnt der zweite Weltkrieg, und bald gibt es keine Familie mehr im Viertel, die nicht einen Vater, Sohn, Bruder oder Bräutigam in den Krieg ziehen lassen muss. Man sagt, wenn das weiße Kamel kommt und sich vor einer Tür zum Schlafen niederlegt, dass es dann jemanden in dem Haus den Tod bringt. Und das weiße Kamel schläft nun oft im Viertel. Alekber trauert und mit ihm trauern der Maulbeerbaum, der Wind und sogar die Pflastersteine. Er möchte Schriftsteller werden und eines Tages aufschreiben, was mit dem Viertel geschah.
Der erwachsene, fast fünfzigjährige Alekber blickt zurück auf seine Kindheit und auf die Zeit, die so schnell vergangen ist. Er schreibt seine Gedanken und die Geschichten vom weißen Kamel und den Bewohnern des Viertels nieder und lässt eine vergangene Welt auferstehen, die mit Wundern und Zauber, Wehmut und Sehnsucht angefüllt ist und durch den Krieg zerstört wurde. Denn nicht nur die Männer sterben im Krieg, sondern auch das Viertel - der Maulbeerbaum, die Spatzen, die gelbe Katze …
Elçin hat vermutlich einiges von dem, was dem kleinen Alekber widerfährt, selbst erlebt und erzählt feinfühlig in einer schlichten Sprache über den Alltag und die Menschen des Viertels, über die Träume und Mythen, über die Vergangenheit und Vergänglichkeit und wie wundersam das Älterwerden ist.
Dieses zarte, stille Buch hat mich berührt und ist für mich eine kleine Entdeckung.
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