Die Wahrheit ist irgendwo da draußen...
Moulder und Scully hätten ihre wahre Freude an diesem Fall gehabt. Zumal er auch in typischer "Akte X"-Manier endet. Wohlgemerkt, er endet, und wird auch nicht ansatzweise wirklich gelöst. Auch die zwei Ermittler wirken wie Stellvertreter für die amerikanischen Kollegen aus der Fernseh-Serie: ein "Glaubender", ein Pfarrer, und eine Skeptikerin, eine Psychiaterin.
Doch damit endet das "Begreifbare" an diesem Buch auch schon. Ich wurde bereits durch das merkwürdige Vorwort skeptisch. In welchem Buch hat man das schon, dass man vom Verlag (!), nicht vom Autor, eine Einleitung serviert bekommt, passenderweise gleich mit Handlungsablauf, Handlungsvorschau, und Vergleichen mit berühmten literarischen Vorbildern? (Sandro Veronesi mit Calvino oder Umberto Eco zu vergleichen, fand ich allerdings völlig überzogen!) Es wirkte auf mich so, als wolle man die Bewertung des geneigten Lesers vorweg nehmen, ihm eine Anleitung bieten. So als habe man Angst, das Buch könnte sonst nicht verstanden werden. Ich muss sagen, dass diese Angst nicht unbegründet war. Denn "verstanden" habe ich es nicht wirklich.
Nun, man tappt hier als Leser leicht in eine Falle. Durch den Klappentext und die 11 Leichen im Buch möchte man gerne glauben, es handle sich um einen "Thriller". Doch weit gefehlt. Auf dem Umschlag steht ausdrücklich "Roman", und Klett-Cotta ist nun wirklich keine Sparte, die üblicherweise Thriller verlegt.
Bei genauerem Nachdenken muss ich allerdings zugeben, dass die Struktur des Buches schon recht ausgetüftelt war. Zwei Erzählperspektiven wechseln sich durchgehend ab, beide in der "Ich"-Perspektive. Beide sind in ihrem je eigenen Stil geschrieben, der eine getragen und nachdenklich, der andere zunehmend verwirrt und panisch.
Da ist einmal der Pfarrer von San Giuda, unserem hoch symbolisch verschlüsselten Schauplatz - ein Bergdorf mitten in Italien, wahrhaftig von allem abgeschnitten. Kein Handy-.Empfang, kein Fernsehen. Noch dazu eine Bevölkerung voller inzestuöser Geheimnisse, wie sich langsam herausstellt. Auf der anderen Seite haben wir die Psychiaterin Giovanna, die zum selben Zeitpunkt durch ein wieder aufbrechendes Trauma aus der Bahn geworfen wird. Ursprünglich wollte sie Sportlerin werden, Ski-Fahrerin, wurde jedoch vor 15 Jahren durch eine Verletzung daran gehindert. Genau diese Narbe bricht nun wieder auf, zu genau derselben Stunde, als in unserem Horror-Dorf die 11 Morde geschehen - und dies veranlasst Giovanna dazu, in das Dorf zu ziehen, um den Dingen (sowohl bei sich als auch bei den Dorfbewohnern) auf den Grund zu gehen.
Das Buch gönnt sich eine sehr lange Einleitungsphase. Denn bis fast zur Mitte des Buches sind sich der Pfarrer und Giovanna nicht einmal begegnet. Don Ermete berichtet, wie sich das unmittelbare Geschehen auf die Gemeinde auswirkt - samt Wetterkatastrophe und Journalistenplage. Und Giovanna hadert mit sich und ihrem Leben - mit ihrer alten Narbe, ihrer Vergangenheit, und ihrem Alberto, von dem sie sich gerade getrennt hat. Erst zu dem Zeitpunkt, als die offiziellen Ermittlungen stocken, eilt der Pfarrer in das psychiatrische Zentrum, um Giovanna um Hilfe zu bitten.
Die beiden Erzählperspektiven sind miteinander verstrudelt wie ein Hefezopf. Wobei aber nicht wirklich etwas "passiert". Auch nach dem Einzug Giovannas in das Dorf werden lediglich alle möglichen seelischen Abarten und Verstrickungen der Dorfgemeinschaft aufgedröselt. Die beiden Perspektiven ergänzen sich schon irgendwie - der Pfarrer resümiert ständig, befragt sich, hadert, ringt mit sich und dem Glauben. Er sucht auch nach (über)sinnlichen Ursachen. Giovanna hingegen wird zunehmend labiler, telefoniert ständig mit ihrer Mutter, wird hektisch und unausgeglichen. Das Ganze steigert sich bis kurz vor Ende des Buches. Die Atmosphäre ist in gewisser Weise vergleichbar mit dem Film "Blair Witch Project", in dem ja auch eigentlich "nichts passiert", aber bei dem dennoch im Kopf des Lesers/Zuschauers sich quälende, dräuende Bilder aufbauen. Darin besteht der eigentliche Grusel!
Es wirkte auf mich so, als sei das Buch zu Beginn der Handlung in einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum gefallen - das Böse an sich konnte durch diesen Riss eindringen. Alles wirbelt durcheinander, bis eben Giovanna und Don Ermete gegen Ende gemeinsam in der Küche sitzen, über den Fall spekulieren, und sich gegenseitig gestehen, was sie in ihren Leben an Fehlern begangen haben. Das war anscheinend ein reinigendes Ereignis, und - zack - ist der Riss wieder geschlossen. Das vermisste Mädchen taucht auf, sogar das Wetter bessert sich. Und das Buch endet einfach. Erklärt ist damit aber nichts.
Ich frage mich, ob der Nachtrag, der Epilog, "Stunde Null", wirklich nötig war. Dieses letzte Kapitel hat nicht unwesentlich zu meiner Verstörung beigetragen. Hier spricht wiederum Giovanna, in einem einzigen, taumelnden Monolog ohne jegliche Interpunktion. Sie berichtet von ihrem Leben, nachdem sie das Dorf verlassen hat. Und auch von Don Ermete berichtet sie. Aber wenn es doch ein Neuanfang für beide ist, warum wirkt dann dieser Nachtrag erst recht hektisch und unausgeglichen? Ich frage mich auch, ob der Autor nicht lediglich auf ein berühmtes Vorbild hat anspielen wollen - denn diese ganze Passage erinnert mich ganz entschieden an den Schluss-Monolog der Molly Bloom aus James Joyces "Ulysses". Erklärt ist damit aber wiederum nichts.
Ich kann mich nur beim Leser der Rezension für diesen merkwürdigen Mischmasch entschuldigen. Aber das Buch gibt für mich leider nichts anderes her, als eben Verwirrung. Ich vergebe dennoch vier Sterne, für den Anspruch, der ganz offensichtlich dahinter steckt, für die gekonnte Verwendung von Sprache, und für die quälenden Bilder, die dem Leser in den Kopf gezaubert werden. Und um mit Fox Moulder zu sprechen - "die Wahrheit ist irgendwo da draußen"...