Vielleicht will ich alles - Que Du Luu

  • Addi ist 16, vordergründig wohlbehütetes Mittelstandskind, in Wahrheit ist seine Familie ein Alptraum: die Mutter eine prügelnde Cholerikerin, der Vater ein Versager voller Selbstmitleid. Da erscheint es Addi regelrecht als Hoffnungsschimmer, als seine Eltern sich endlich trennen, doch weit gefehlt: War bisher sein Vater der Adressat von Mutters Aggressionen, kriegt nun er selbst die volle Ladung mütterlicher Wut ab. Kein Wunder, dass Addi, wenn er sich nicht gerade in seinem Zimmer eingeschlossen hat, durchs nächtliche Bielefeld streift, um seiner Mutter aus dem Weg zu gehen. Dabei gerät er in abstruse Situationen, lernt skurrile Menschen kennen und lernt so, seine Kindheit hinter sich zu lassen.


    Die Sprache des Romans ist ausgesprochen schlicht, kurze Sätze, einfache Wortwahl, kurze Dialoge. Das passt zu der Erzählweise, die eigentümlich linear ist und zu der nicht vorhandenen Figurenzeichnung: Die Protagonisten tauchen auf und verschwinden wieder, ohne das wir irgendwas über ihren Charakter erführen. Selbst der Ich-Erzähler bleibt seltsam wage, wir wissen zwar, was er so denkt, aber es ergibt sich kein schlüssiges Gesamtbild. Das mag an Addis Ambivalenz liegen, die für mich während des Lesens immer unglaubwürdiger wurde: Auf der einen Seite noch ein Kind, dass sich von Mutti bekochen lässt, Hausaufgaben machen muss und keine Ahnung hat, wie man eine Waschmaschine bedient, ist Addi andererseits so abgebrüht, wie ich es mir selbst für einen Erwachsenen schwer vorstellen kann.
    Dass seine Mutter ihn einen Hurensohn nennt und er für seinen Vater ganz offensichtlich nur ein Störfaktor ist, nimmt er völlig regungslos zur Kenntnis. Sein Liebesleben wirkt wie das eines Vierzigjährigen, der, von der Liebe enttäuscht, sich nur noch auf reine Bettgeschichten einlässt und nicht wie das eines Jugendlichen, der erste Schmetterlingsgefühle durchlebt. Andererseits ist Addi ein herzensguter Junge: er befreit todesmutig ein Sinti-Mädchen aus den Fängen übler Schläger, kümmert sich um einen stinkenden, verrückten Penner und, obwohl in der Klasse sehr beliebt, freundet er sich ausgerechnet mit dem Außenseiter Jonas an, der seine Eltern, Hartzis alle beide, des nächtens mit Bier versorgen muss.


    Das alles ist zwar Teil des Ablösungsprozesses Addis von seinem Elternhaus, nur leider sieht man keinerlei psychologische Entwicklung: Da Addi von Anfang an ungeheuer erwachsen und vernünftig wirkt, besteht der Ablösungsprozess lediglich darin, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Und das ist nicht wirklich spannend.


    Ich merke gerade, dass das nun doch eher ein Verriss geworden ist. Das Buch hat durchaus witzige Passagen und einige gute Ideen. Das reicht nur leider nicht für einen guten Roman aus, der einem länger als zwei Tage im Gedächtnis bleibt.


    Autorin
    QueDu Luu, geboren 1973 in Vietnam, chinesischer Abstammung, ist in Herford aufgewachsen und lebt heute in Bielefeld. Sie studierte Germanistik und Philosophie. Ihr erster Roman "Totalschaden" erschien 2006 bei Reclam. Sie erhielt u.a. den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis und den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen.


    edit hat, da der Name der Autorin evt. etwas irritiert, ein paar Infos zu derselben hinzugefügt

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

    Dieser Beitrag wurde bereits 2 Mal editiert, zuletzt von DraperDoyle ()

  • Ich seh´s doch deutlich positiver...


    Nach "Totalschaden" legt Que Du Luu mit "Vielleicht will ich alles" wieder einen sprachlich reduzierten, inhaltlich aber überzeugenden Roman vor, der fesselt und Spaß macht. Der Ich-Erzähler Addi ist ein echter Sympathieträger mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, ohne ein perfekter Strahlemann oder Wunderwuzzi zu sein. Es tauchen so allerhand skurrile Gestalten auf, was aber niemals in billigen Klamauk oder in Unglaubwürdigkeit ausartet.
    Addi ist für sein Alter schon recht abgebrüht, muß er auch sein bei den Zuständen zuhause und in seiner Umgebung. Die Figuren werden einen nicht anhand Charakterisierungen nähergebracht, sondern man lernt sie durch ihr Verhalten und durch ihre Reaktionen auf bestimmte Ereignisse kennen.
    Ich fühlte mich gut unterhalten von diesem Roman, nicht zuletzt aufgrund des Humors, aber auch, weil eigentlich Trauriges so unprätentiös dargestellt wird.