'Der menschliche Makel' - Seiten 168 - 227

  • Das Buch macht mich einfach fertig :bonk


    Während ich im 2. Teil schon dachte ich hätte den roten Faden gefunden, ist er nun auch schon wieder weg.


    Es beginnt mit einer sehr derben Unterhaltung über Bill Clinton, Monica Lewinsky und sonstige sexuelle Möglichkeiten. Beim Lesen fragte ich mich, wer unterhält sich da mit wem? Die Auflösung kommt 6 Seiten später, es sind einfach irgendwelche Leute auf dem Campus, die Coleman hört als er dort auf einer Bank sitzt. Er stellt fest, das Gespräch war ziemlich unverblümt und unfein für ein Gespräch unter Akademikern.


    Und da sind wir wieder beim Thema, Anstand und Schicklichkeit. Um anständig zu sein, muss jede Abweichung vom Pfad der Schicklichkeit verhindert werden, damit sich alle wohlfühlen. Er sollte das tun, was irgendwelchen Moralphilosophen passend erscheint.
    Es fällt ihm gerade im Skandal um Bill Clinton schwer an die Schicklichkeit zu glauben, obwohl er sich selbst auch von ihr tyrannisiert fühlte.


    Auf dem Weg zu Delphine Roux sieht er von weitem Faunia mit der Putzkolonne und er beobachtet die Gruppendynamik.


    Und plötzlich sieht er klar und denkt an seine Tochter Lisa mit den Kindern im Förderunterricht, die wie Faunia Schwierigkeiten beim Lesen haben bzw. Analphabeten sind. Er sieht plötzlich Faunia als Schülerin von Lisa und er stellt sich die Frage "Was macht man mit einem Mädchen das nicht lesen kann?"


    Und er beschließt seinen Sohn Jeff anzurufen um ihm mitzuteilen, das seine Beziehung zu Faunia beendet ist.
    Das Gespräch halte ich für sehr aufschlußreich für Coleman. Zum einen erfährt er, das auch für die Kinder nach dem Tod der Mutter keine leichte Zeit war, vor allen Dingen da der Vater sich so verändert hat und wie hilflos sie sich fühlten, nicht an ihn ranzukommen.
    Und er erfährt den Grund, warum Lisa sauer auf ihn war und das durch Tratscherei und Verleumdungen wieder falsche Gerüchte in die Welt gesetzt wurden.
    Er ist enttäuscht, das seine Kinder die er zum Denken erzogen hat, auf die Gerüchte reinfallen ohne erst beim ihm nachzufragen, ob diese überhaupt stimmen. Er ist keiner Frage ausgewichen und auch die Fragen nach seiner Familie beantwortet und er geht im Geist durch, die Geschichte die er allen erzählt hat. Ihm wird bewußt, das er seine Kinder mit einer Lüge aufgezogen hat und er überlegt, ob das schlechte Verhältnis zu seinem jüngsten Sohn daraus resultiert, weil er sich nicht einfach hat abspeisen lassen und alles hinterfragt hat.


    Sehr verwirrend für mich ist am Ende des Kapitels wieder Delphine Roux.
    Schon von Anfang an hatte er Schwierigkeiten mit ihr. Er hält sie zwar für eine hochintelligente junge Frau auf der einen Seite, aber emotional ungefestigt ist.
    Auch von ihrer Seite ist es kein gutes Verhältnis. Auf der einen Seite möchte sie von ihm beachtet werden, auf der anderen Seite verachtet sie ihn aber auch für seine Haltung.
    Vor den Rassismusvorwürfen sollen sich schon weibliche Studentinnen beschwert haben, das sie mit ihm nicht klarkommen, das er frauenfeindlich ist. Eine Studentin war so eingeschüchtert, das sie in allen Fächern durchgefallen ist und das Studium abgebrochen hat.


    Da stellen sich mir dann wieder folgende Fragen.


    Wer ist Coleman eigentlich? Ein Professor der zu bedauern ist, weil ein falscher Satz sein Leben zerstört hat? Oder ein verknöcherter Professor, der an seinen veralteten Lernmethoden festhält und keine andere Denkweise zuläßt bzw. andere von oben herab behandelt, weil er sie für zu doof einschätzt?


    Und wer ist Delphine Roux?
    Eine emotionslose machthungrige Feministin, die Widersacher aus dem Weg räumt und andere Leute vorschnell verurteilt? Oder eine verbitterte Frau die mit dem Leben selbst nicht klarkommt und sich einsam fühlt?


    Fragen über Fragen. :gruebel

    Kein Buch ist so schlecht, dass es nicht auf irgendeine Weise nütze.
    (Gaius Plinius Secundus d.Ä., röm. Schriftsteller)

  • Zitat

    Es beginnt mit einer sehr derben Unterhaltung über Bill Clinton, Monica Lewinsky und sonstige sexuelle Möglichkeiten. Beim Lesen fragte ich mich, wer unterhält sich da mit wem? Die Auflösung kommt 6 Seiten später, es sind einfach irgendwelche Leute auf dem Campus, die Coleman hört als er dort auf einer Bank sitzt. Er stellt fest, das Gespräch war ziemlich unverblümt und unfein für ein Gespräch unter Akademikern.


    Das Gespräch war wirklich ziemlich krass, und es hatte einen unangenhemen Beigeschmack, als würden die Leute den Skandal sogar richtig genießen. Aber ich zweifle nicht daran, dass solch ein Ton zu dem Zeitpunkt in den USA an der Tagesordnung war. Jedenfalls klingt es ziemlich authentisch.



    Zitat

    Original von Macska
    Da stellen sich mir dann wieder folgende Fragen.


    Wer ist Coleman eigentlich? Ein Professor der zu bedauern ist, weil ein falscher Satz sein Leben zerstört hat? Oder ein verknöcherter Professor, der an seinen veralteten Lernmethoden festhält und keine andere Denkweise zuläßt bzw. andere von oben herab behandelt, weil er sie für zu doof einschätzt?


    Ich glaube, er ist alles in einem. Auf jeden Fall ein vielschichtiger Charakter.
    Ich könnte mir vorstellen, dass Vorlesungen bei ihm sehr interssant waren, aber bestimmt auch fordernd.

  • Schon in diesem Abschnitt bekommt man als Leser einen Hinweis darauf, dass auch Faunia ein Geheimnis verbirgt - sie gibt nur vor Analphabetin zu sein:


    Zitat

    "Mit dem Mädchen, das falsch ist, dem Mädchen, das lügt und sich versteckt, dem Mädchen, das nicht lesen kann, das doch lesen kann, das vorgibt, nicht lesen zu können, das diesen behindernden Makel bereitwillig auf sich nimmt, damit es sich um so beser als Angehörige einer Untergruppe ausgeben kann, der es nicht angehört und nicht angehören müßte, von der er aber, wie es aus völlig falschen Gründen will, glauben soll, daß es ihr angehört."(S. 187)


    Ähnlich wie Silk, lügt Faunia über ihren Status, um einer anderen Gruppe angehören zu können. Das finde ich interessant und es hat mich auch ein wenig überrascht.


    Am Ende des Kapitels macht Silk auch noch einmal nachdrücklich deutlich, dass er nicht mehr dazugehören möchte. Zumindest nicht mehr zu seiner ursprünglichen Familie:


    Zitat

    "Ich bin keiner von euch, ich kann euch nicht ertragen, ich gehöre nicht zu eurem Neger-Wir."

  • Zitat

    Original von Herr Palomar


    Das Gespräch war wirklich ziemlich krass, und es hatte einen unangenhemen Beigeschmack, als würden die Leute den Skandal sogar richtig genießen. Aber ich zweifle nicht daran, dass solch ein Ton zu dem Zeitpunkt in den USA an der Tagesordnung war. Jedenfalls klingt es ziemlich authentisch.


    Dieses gespräch hat mich zuerst auch sehr verwirrt, da es so lange dauert, bis klar wird, wer sich da unterhält.
    Ich kann mir auch gut vorstellen, dass solche oder ähnliche Gespräche damals in den USA quer durch alle Bevölkerungsschichten gehalten wurden.


    Aus Delphine Roux werde ich auch so gar nicht schlau, allerdings ist sie mir äußerst unsympathisch.

  • Zitat

    Original von Macska
    Und wer ist Delphine Roux?
    Eine emotionslose machthungrige Feministin, die Widersacher aus dem Weg räumt und andere Leute vorschnell verurteilt? Oder eine verbitterte Frau die mit dem Leben selbst nicht klarkommt und sich einsam fühlt?


    Ich habe ihr Verhalten gegenüber Coleman Silk als Rache dafür empfunden, daß er sie zurückgewiesen hat, bzw. als Frau nicht wollte. Gekränkte Eitelkeit einer Frau, die sich zwar für äußerst intelligent hält, zu höherem berufen sozusagen, aber wenig Selbstwertgefühl besitzt. Und dann trifft sie dort auf einen Professor, der in allem besser ist als sie, der sie als Frau nicht anerkennt und als Kollegin ebensowenig. Als sie dann seine Vorgesetzte ist, nutzt sie dies aus, um sich zu rächen.

  • Dieses Kapitel fand ich teilweise etwas langatmig, vor allem den Schluß. Mich nervt Frau Roux ziemlich.


    Das Telefonat mit seinem Sohn dagegen und der anschließende Rückblick auf diesen für seine Zukunft so richtigungsweisenden Vorfall bei der U.S.Navy fand dagegen wieder äußert interessant und unglaublich gut erzählt.


    Ich mag die Vielschichtigkeit des Charakters von Silk sehr. Er hat gute und schlechte Eigenschaften aber der Autor schafft es immer wieder, daß ich seine Entscheidungen und sein Denken verstehe. Philip Roth läßt ihn sehr menschlich wirken mit Schwächen, Fehlern aber auch großen Stärken.


    In diesem Kapitel gibt Silk das erste Mal zu, daß er lügt und seine Herkunft nicht einfach verschweigt. Er belügt seine Frau, indem er ihr eine Lebensgeschichte auftischt, die zwar gut durchdacht ist, von seinem jüngsten Sohn aber immer wieder hinterfragt wird. Langsam beginnt er sich zu fragen, ob sein Sohn vielleicht ahnt, daß sein Vater eine Lüge lebt.


    Ich kann seinen Schmerz darüber, daß seine Kinder die Gerüchte bei ihm nicht hinterfragen sehr gut verstehen. Er selbst hinterfragt aber sich selbst und beginnt die Schuld für ihr mangelndes Vertrauen bei sich selbst zu suchen. Er ist aber auch unglaublich wütend auf seine Kinder.


    Und dann erinnert er sich wieder an diese eine besondere Nacht als er bei der Navy war. In dieser Nacht wird er von einer weißen Hure als Nigger verschmäht von ihren "Aufpassern" zusammengeschlagen und landet schließlich im Schwarzenviertel. Hier hat er das erste Mal Angst, was passiert, wenn er mit seiner Lüge auffliegt. Hier wird ihm bewußt wie viel es ihm bedeutet nicht mehr als Schwarzer leben zu müssen. Hier spürt er aber auch, daß dies immer ein Teil von ihm sein wird, ein Teil den er zwar verleugnen aber niemals ablegen kann. Die Tätowierung, die er an diesem Abend erhält wird ihm immer bewußt machen, wie schnell er auffliegen kann und wie wenig er dies möchte.


    Das Erinnerung an das "Gespräch" mit dem toten Vater damals finde ich auch sehr bezeichnend für seine Geschichte. Ich habe das Gefühl, daß er jetzt als alter Mann ahnt, daß sein Untergang naht oder anders ausgedrückt, daß die Prophezeihung seines Vaters "er werde mit aufgeschnittener Kehle im Straßengraben enden" wenn er so weitermacht wie bisher, sich nun erfüllen wird. Seine Lebenslüge holt ihn ein. Ich bin nun gespannt auf welche Art.

  • Zitat

    Original von Macska
    Das Buch macht mich einfach fertig :bonk


    :knuddel1


    Ja, das Buch nimmt mittlerweile epische Ausmaße an *uff*
    Aber Du fasst den Inhalt immer sehr schön zusammen, Macska. Da muss ich gar nicht mehr überlegen, was in dem jeweiligen Kapitel alles so passiert ist. :-]


    Für mich war dieser Abschnitt bisher der schwierigste. Es wird viel Widersprüchliches erzählt und einiges hab ich auch, ehrlich gesagt, schlicht nicht verstanden.
    Der Krähen-Exkurs (S. 188 – 193) bspw. bleibt mir rätselhaft.
    Und Delphine Roux ist ja der Widerspruch in Person. Sie giert nach Anerkennung in jeder Hinsicht (als Wissenschaftlerin, als Frau …) und wenn ihr die Anerkennung versagt wird, schlägt sie aus. Außerdem scheint sie extreme Ansichten zu haben, wenn’s um Frauenrechte und Rechte sozial Benachteiligter geht. Und Colemans Überlegungen, weshalb er Delphine Roux ans College geholt hat, begreif ich auch überhaupt nicht, Zitat von S. 216:
    "Er wollte sie nicht am College haben. Und darum stellte er sie ein. Und so begannen sie ersthaft, schlecht miteinander zurecht zu kommen." ?(

  • Zitat

    Original von Saiya
    Ich mag die Vielschichtigkeit des Charakters von Silk sehr. Er hat gute und schlechte Eigenschaften aber der Autor schafft es immer wieder, daß ich seine Entscheidungen und sein Denken verstehe. Philip Roth läßt ihn sehr menschlich wirken mit Schwächen, Fehlern aber auch großen Stärken.


    Das finde ich auch!
    Roth beschreibt alle Charaktere sehr differenziert und ohne je in Klischees oder in einfaches Gut-Böse-Denken zu verfallen. Die Figurenentwicklung ist bisher das, was mir an diesem Buch am meisten gefällt. Sehr gekonnt, einfühlsam, nachvollziehbar, glaubhaft … :anbet

  • Zitat

    Original von Herr Palomar


    Das Gespräch war wirklich ziemlich krass, und es hatte einen unangenhemen Beigeschmack, als würden die Leute den Skandal sogar richtig genießen. Aber ich zweifle nicht daran, dass solch ein Ton zu dem Zeitpunkt in den USA an der Tagesordnung war. Jedenfalls klingt es ziemlich authentisch.


    Mmh, ich weiß nicht, auf mich wirkte das nicht authentisch, sondern gewollt vulgär. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Akademiker auf dem Campus tatsächlich so reden, ich finde das nicht glaubhaft. Ich hätte so ein Gespräch eher in einer Kneipe nach dem x-ten Bier verortert.

  • Zitat

    Original von buzzaldrin
    Schon in diesem Abschnitt bekommt man als Leser einen Hinweis darauf, dass auch Faunia ein Geheimnis verbirgt - sie gibt nur vor Analphabetin zu sein:



    Ähnlich wie Silk, lügt Faunia über ihren Status, um einer anderen Gruppe angehören zu können. Das finde ich interessant und es hat mich auch ein wenig überrascht.



    Was? Faunia ist gar keine Analphabetin?? :yikes Das hatte ich glatt überlesen. Die Andeutung folgt ja unmittelbar auf die Szene, in der sich Coleman Faunia als kleines Mädchen im Förderkurs seiner Tochter vorstellt (diese Szene fand ich übrigens sehr gelungen, solche surrealen Sachen lese ich gerne mal zwischendurch, wenn sie phantasievoll gemacht sind und gut passen, lockern solche Szenen enorm auf). Und da die Sequenz vorher so surreal war, hab ich wohl die Anspielung darauf, dass Faunia doch lesen kann, auch nicht ernst genommen …
    Ja aber – wieso macht jemand denn so was? Sich freiwillig abqualifizieren? Es bleibt spannend …

  • Zitat

    Original von Rika-Ja aber – wieso macht jemand denn so was? Sich freiwillig abqualifizieren? Es bleibt spannend …


    Ich bin mir nicht sicher, aber ähnlich wie Silk, der seine Herkunft verschweigt, tut Faunia das sicherlich auch um einer bestimmten Gruppe anzugehören ... vielleicht möchte sie auch durch ihre Behauptung Analphabetin zu sein, mit Absicht bestimmte Vorurteile wecken.

  • Die Darstellung von Delphine Roux fand ich sehr aufschlussreich, woher sie kommt, wohin sie wollte, was sie trotzdem nicht angenehmer macht.


    Die für Coleman vielleicht wichtigste Begebenheit war vielleicht der Moment, als er Faunia mit ihren Kollegen beobachtet - versteckt im Schatten.

  • Delphine Roux stellt eine Art Gegenpol zu Faunia dar.
    Sie hat eine gute Position, Bildung, Kultur (kennt zum Beispiel alle wichtigen anspruchsvollen Filme, obwohl ich das eigentlich selbstverständlich finde!).
    Dennoch scheint sie sehr unsicher zu sein.
    Faunia hingegen weiß m.E. nach genau, wer sie ist und was sie kann.


    Eigentlich ein guter Einfall von Philip Roth, doch irgendwie erscheint mir Delphine als Figur nicht so gut gelungen. Sie bleibt mir als Leser fremd und ich bleibe ratlos, was mit ihr anfangen.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Eigentlich ein guter Einfall von Philip Roth, doch irgendwie erscheint mir Delphine als Figur nicht so gut gelungen. Sie bleibt mir als Leser fremd und ich bleibe ratlos, was mit ihr anfangen.


    Das ging mir ähnlich, richtig klar ist mir nicht, was ihre Rolle eigentlich gewesen ist. Durch die Episoden, die über sie erzählt werden, ist sie mir aber super unsympathisch geworden - vor allem am Ende des Buches, als sie ihr eigenes Büro verwüstet.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Delphine Roux stellt eine Art Gegenpol zu Faunia dar.


    Natürlich ist sie als Frau das absolute Gegenteil von Faunia. Beide haben aber gemeinsam, daß sie aus der Gesellschaft, der sie angehören oder angehören wollen (Delphine) ausgegrenzt sind.
    Delphines Lebensgeschichte, dieses sich unbedingt befreien wollen von ihrer Familie, ihrem alten Leben, hat sie mit Coleman gemeinsam. Sie will auch nicht zu dem "Wir" gehören, sondern als "Ich" wahrgenommen werden.


    Mir ist sie allerdings auch nicht symphatisch und ich hätte ihre Rolle in den Buch auch nicht unbedingt gebraucht.