Brenntage - Michael Stavaric

  • Inhalt:


    "Das Ausbleiben der Zukunft ist nichts für schwache Nerven." So viel steht für den namenlosen Ich-Erzähler fest, der nach dem Tod der Mutter bei seinem Onkel in einer von Bergen und Schluchten umgebenen Siedlung lebt. Und die Zukunft macht sich rar, denn wegen der Abgeschiedenheit der Siedlung kapseln sich deren Einwohner zusehends ab. So entsteht ein Mikrokosmos mit ganz eigenen Sitten und Gebräuchen, wie etwa den "Brenntagen" bzw. diversen "Waldriten".
    Die Grenzen zwischen Surrealität und Realität verschwimmen - Menschen verschwinden, durch die Wälder ziehen Soldaten, Hunderudel und mitunter sogar Geister, die auf längst geführte Kriege verweisen, überall Echos, deren eigentlicher Sinn verborgen bleibt. Da ist es nur gut, dass es den Onkel gibt, eine schier unerschöpfliche Quelle eigensinniger und abgründiger Weisheit. Und als die Siedlung durch ein großes Feuer in Schutt und Asche gelegt wird, übernimmt dieser das Kommando und veranlasst einen Umzug der Bewohner in eine der nahe gelegenen Minen ...
    In schillernd-poetischer Sprache erzählt Michael Stavaric in seinem neuen Roman auf waghalsige und zugleich berührende Weise vom Erwachsenwerden in einer sich beständig wandelnden Gegenwart.


    Über den Autor:


    Michael Stavaric
    wurde 1972 in Brno (CZ) geboren und lebt in Wien. 1979 Emigration nach Österreich. Studium der Bohemistik/Publizistik an der Universität Wien. Vormals lange Jahre Lehrbeauftragter an der Sportuniversität Wien. Freier Schriftsteller, Übersetzer und Ghost-Writer. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Michael Stavaric
    erhielt verschiedene Preise. 2008 wurde er mit dem "Adelbert-von-Chamisso-Preis, Förderpreis" geehrt und 2009 mit dem "Literaturpreis Wartholz 2009".


    Meine Meinung:


    Was mich nach Ende der Lektüre am meisten beschäftigt hat, war die Frage, ob nicht irgendwie jede Erinnerung an Kindheit so voller Gespenster, Märchen und gezeichnet von Zauber ist wie der Roman von Michael Stavaric. Man schwebt als Leser dieser Geschichte permanent in einer Art Zwischenwelt, die einem in bestimmter Weise vertraut ist, weil man ähnliche Gefühle erlebt, wenn man an die Wälder, Rituale und phantastische Ereignisse der eigenen Kinderwelt zurückdenkt. Anekdotenhaft und aus einer rückblickenden Position aus entfaltet der Autor das Porträt eines abgeschotteten und seltsam trostlosen Dorfes, in dem Zeit und Realität keine Rolle zu spielen scheinen. Voll ist dieses Dorf von mystischen Geschichten, Monstern, Soldaten, wilden Tieren und dem Feuer der Brenntage, die einmal im Jahr zur Entrümpelung der Häuser (und der Seelen?) stattfinden. Fasziniert wird man mit dem Icherzähler in den Strudel dieser geisterhaft anmutenden Kulisse hineingezogen und sucht wie die Kinder im Dorf nach einem Ausweg. Doch zwischen dem Dorf und der Außenwelt scheint es nur undurchdringliche Wälder und Schluchten zu geben, dafür wurzelt es tief hinunter in die Erde, in die stillgelegten Bergwerksminen, die der Ursprung aller Geschichten, aller Ereignisse und aller Menschenleben zu sein scheint. Und deren Ende. Aber lest selbst! Wer sich vertrauensvoll an der Hand nehmen lässt, dem steht eine sprachlich außergewöhnliche, fast musikalische Reise zurück in die Kindheit bevor, gefüllt mit einer Vielzahl liebevollster Details und magischer Geheimnisse. 10 Punkte!


    lg :wave Claudia

  • Zukunft ist Vergangenheit plus zwei


    Das ist schon ein seltsamer Roman, den der gebürtige Tscheche, der seit seinem achten Lebensjahr in Österreich weilt, da vorgelegt hat: Ein namenloser Ich-Erzähler berichtet vom Leben in einem Dorf, einer Siedlung, die einst reich und umkämpft war, als die Minen noch Gold und Uran im Überfluss enthielten, doch diese Zeiten sind lange vorbei ("lange" ist, wie sämtliche Zeitbegriffe, schwer einzuordnen in diesem Zusammenhang, denn Zeit in diesem Sinn scheint nicht zu existieren). Der Junge, der später - möglicherweise - keiner mehr ist, hat seine Mutter verloren, deren Vermächtnis aus Briefen besteht, die ihm täglich zugestellt werden. Dieser Junge lebt beim Onkel, auch die Tante gibt es längst nicht mehr, aber jener Onkel war die federführende Kraft bei vielen Prozessen - wohl auch bei der Gründung der Siedlung, später bei der Ausbeutung der Minen, und dann bei der Erfindung der jährlichen "Brenntage", jener öffentlichen Verfeuerung ausgedienter Gegenstände, die am Ende des Romans die Siedlung vernichten wird. Dieses Ritual ist das einzige, was noch Bestand hat in der bröckelnden Welt, über die Stavaric in beeindruckender Weise schreibt.


    Episodisch - zuweilen ohne Chronologie - berichtet der Erzähler davon, wie sich das Leben im von der Zivilisation weitgehend abgeschnittenen Dorf darstellt, erzählt von seltsamen Ritualen, von Geistern, vom nahen Wald, dessen Birken nicht abgeholzt werden dürfen, durch den zuweilen Soldaten ziehen, beobachtet von den Kindern, die sich viel besser als diese zu tarnen in der Lage sind. Über allem steht der omnipräsente Onkel, der vieles weiß und auf alles eine Antwort hat, der handwerklich geschickt und ein guter Jäger ist, dem Jungen - auch später noch - ausgestopfte Tiere zum Spielen gibt. Er ist Kumpel, Lehrer, Vater und Freund zugleich, und dann in seiner Distanziertheit wieder nichts von alledem. Auch dieser Onkel hat, wie vieles im Buch, etwas Geisthaftes.


    Die Eisenbahnschienen, die einst für Wohlstand sorgten, enden im Nichts, die unüberwindliche Schlucht hat keine Brücken mehr, und wer versucht, die Siedlung über die Berge zu verlassen, verschwindet auf Nimmerwiedersehen - wahrscheinlich, ohne je irgendwo anzukommen. Das jedoch gilt für so manchen, der Dinge tut, die man besser unterlässt in dieser freudlosen, nüchternen, muffigen, mystischen kleinen Welt. Als die Kinder etwa versuchen, im Wald Geister mit Lebendködern zu fangen (wofür ein Mädchen ausgelost wird), fordert auch dies seine Opfer. Mehr als einen Nebensatz hat der Autor hierfür jedoch nicht übrig, was keinesfalls einen Makel darstellt, sondern einen Verweis auf die knappe, präzise, lakonische Erzählweise, deren kunstvolle, oft verblüffende Diktion bis zur letzten Seite durchgehalten wird.


    Abseits der Geschichte von der fiktiven (?) Tristesse im armseligen Hinterland, von der emotionalen Verknappung, die nicht einmal Eigennamen zulässt (der einzige Name, der im gesamten Buch genannt wird, ist der des Mond-Erstbegehers Neil Armstrong), vom Erkunden, Überleben, Erfahren und Scheitern ist "Brenntage" ein Gleichnis über das, was war, was ist und was sein wird: Gestern war Vergangenheit, heute ist Gegenwart, morgen ist Zukunft - also nur zwei kleine Schritte von der Vergangenheit entfernt. Aus dieser Sicht erzählt das Buch (auch) von der Stagnation des so genannten Fortschritts, von Entwicklungen, die keine sind, und von sinnfreien Ritualen, die bestenfalls der Orientierung dienen, aber nicht einmal diese verlässlich bieten.


    Wer dem Etikett "Roman" glaubt, wird eine möglicherweise befremdliche Überraschung erleben. "Brenntage" ist feinste Literatur, verwirrend, fordernd, metaphorisch, deutungsoffen und rätselhaft, diffus und zugleich präzise, aber weit entfernt von einem Buch nach üblichem Erzählschema. Sperrig, stark erzählt, häufig schwergängig, sehr vereinnahmend. Ein Roman, der lange im Kopf bleibt. Wenn man ihn hineinlässt.

  • Der Roman gefällt mir ausgesprochen gut. Ich habe die TB Version gekauft.


    Inhalt ist ja schon erzählt worden, also Leseerfahrung:
    Die etwas wandernde Erzählweise und das Mosaik aus Beobachtungen, die Welt, oder Zwischenwelt, die Stavaric beschreibt fesseln durchaus beim Lesen, auch wenn - platt gesagt - die Hände nicht schwitzig werden.
    Trotzdem ist es vielleicht gerade die schöne Sprache und ruhige Erzählweise, die das Lesen zu einem Genuss macht. Ich habe mich immer wieder dabei ertappt, dass ich meine eigenen Zwischenwelten herausgekramt habe und immer wieder die Frage nach Zeit und Wirklichkeit aufkam. Oder vielleicht war es einfach nur die Birke vor unserem Haus??


    Eine Ähnlichkeit mit "Vor dem Fest" ist mir aufgefallen, überhaupt nicht inhaltlich, sondern der Erzählstil ist ähnlich; übrigens auch ein Buch, das mit sehr gefallen hat.


    Ich mag es, wenn ein Erzähler mir Platz lässt weit über seine Geschichte hinaus zu denken. Dann schleichen sich die Geschichten auf eine gute Art in den Alltag hinein, und das können beide Bücher gut.

    "Reading is food for thought, and anything to do with food must be good." Snoopy


    :lesend : Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort
    :lesend : Ingeborg Bachmann: Malina
    :lesend : Michael Stavaric: Königreich der Schatten