Gail Jones: Sechzig Lichter
Deutscher Taschenbuch Verlag 2009. 224 Seiten
ISBN 978-3423138475
Originaltitel: Sixty Lights
Übersetzerin: Conny Lösch
Über die Autorin:
Gail Jones ist gebürtige Westaustralierin. Sixty Lights erschien 2004 und war für den ›Booker Prize‹ nominiert. Bereits ihr erster Roman, Black Mirror, wurde vielfach ausgezeichne Gail Jones unterrichtet Englisch, Kommunikation und Kulturwissenschaft an der University of Western Australia.
Verlagstext:
Australien, 19. Jahrhundert: Lucy Strange - deren Leben kurz sein sollte - und ihr Bruder Tom, nach dem Tod der Eltern halb verwildert, werden von ihrem skurrilen Onkel nach London geholt. Tom arbeitet bei einer Laterna-Magica- Schau, Lucy in einer Fabrik, die lichtempfindliches Papier herstellt. Ein Ausweg aus diesem viktorianischen Elend tut sich auf, als Lucy als mögliche Braut eines alten Freundes des Onkels nach Indien geschickt wird. Doch auf der Reise beginnt sie eine folgenreiche Liebschaft, die ihrem Leben eine überraschende Wendung gibt: Als Lucys letzte Jahreszeit naht, hat sie ein Kind und ist eine der ersten Fotografinnen des Commonwealth.
Inhalt:
"Deine Geburt, Ellen mein Schatz, deine Geburt war außergewöhlich, deine Geburt war ein feierlicher Anlass. Da waren vierzig, fünfzig, nein, mindestens sechzig Lichter ..." hatte Lucy ihrer kleinen Tochter noch über ihre Geburt in Bombay erzählen wollen. Doch Lucy Strange stirbt nach einem kurzen, abenteuerlichen Leben in London an Lungentuberkulose. Das außergewöhnliche kleine Mädchen wuchs in Australien auf und beschriftete sein Tagebuch mit "Besondere gesehene Dinge ". Lucy erinnert sich in Bildern, eine Eigenheit, die sie von ihrer Mutter Honoria geerbt hat. Durch die Erzählungen der Mutter stiegen Bilder an die Oberfläche, als würden sie im Wasser treiben. Lucy wird manches Mal vor Vergnügen schwindelig, wenn sie ihrer Mutter lauscht.
Die Erlebnisse von Honoria und Arthur Strange klingen so exotisch, dass einem beim Lesen ebenfalls schwindlig werden könnte. Arthur lernt seine zukünftige Frau kennen, als sie ihm aus einer umgestürzten Kutsche entgegenklettert. Er selbst ist als Kind von Missionaren in China aufgewachsen. Honoria arbeitet schon jung als Hausmädchen, lernt darum erst spät, dafür aber umso lustvoller lesen. Als junge Ehefrau erzählt Honoria sich abwechselnd mit Mrs Minchin, der Hebamme, Geschichten. Sie kennt den gesamten Inhalt von "Jane Eyre" und die Hebamme berichtet Abenteuerliches aus Indien. Bei der Geburt ihres dritten Kindes stirbt Honoria. Arthur vergiftet sich in hilflosem Schmerz, nicht ehe er Honorias kinderlosen Bruder Neville zuvor schrifltich gebeten hat, die Kinder nach England zu holen und zu adoptieren. Von den Eltern bleiben zwei Hutschachteln mit Erinnerungsstücken zurück. Niemand spricht mit Lucy und Thomas über ihre verstorbenen Eltern und hält die Erinnerungen an sie am Leben. Als sie 1860 in London eintrifft, kann Lucy sich kaum an Honorias und Arthurs Gesichter erinnern. So wird die erst achtjährige Lucy zur Fotografin; denn sie will Gesichter heraufbeschwören können.
Onkel Neville wächst rührend in die ungewohnte Elternolle und hält die Erinnerung an seine verstorbene Schwester in Ehren. Als Lucy 14 ist, verliert der Onkel seine Arbeitsstelle; beide Kinder müssen nun arbeiten gehen. Thomas sucht sich Arbeit mit Aufstiegsmöglichkeiten in einem "Laterna Magica Establishment". Seine Liebe zu Trugbildern verbindet ihn mit Lucy, aber auch mit seinem Chef Mr Childe. Lucy findet eine Stelle in einer Albumen-Fabrik, in der aus Eiweiß die Beschichtung von Fotoplatten hergestellt wird. Hier lernt sie von den anderen Arbeiterinnen, was eine Frau über das Leben wissen muss. Um seine Schulden abzutragen, will Onkel Neville Lucy an einen alten Freund nach Indien verheiraten. Umbrüche in Lucys Leben werden immer durch Schiffsreisen vorangetrieben. Neue Menschen, neue Bilder, neue Begriffe scheinen die Häutungen beider Geschwister zu fördern, ehe die ihren Platz im Leben finden.
Reichlich naiv lässt Lucy sich während der Überfahrt nach Indien von einem Fremden schwängern. Der Bräutigam mit dem anspielungsreichen Namen Isaac Newton holt im Hafen entgegen seiner Vorstellung keine reife Frau ab. Lucy, deren Schwangerschaft bald nicht mehr zu verbergen ist, ähnelt einem Kind, dem er erst beibringen muss, sich dem Personal gegenüber wie eine Memsahib zu benehmen. Immer wird Lucy Isaac dafür dankbar sein, dass er ihr eine kurze Fotografen-Lehre finanzierte. Zwischen Isaac und Lucy wächst eine ungewöhnliche von Achtung und gegenseitigem Respekt geprägte Liebe, ehe Lucy mit Baby Ellen nach England zurückgeschickt wird.
Lucy heisst Strange und wirkte zu ihrer Zeit wohl auch strange. Sehen ist ihre Berufung, die sie wie ein sexueller Hunger überfällt. Lucy und Thomas treffen immer wieder auf ältere Förderer, die zunächst merkwürdig wirken und sich überraschend zu sehr fürorglichen Zeitgenossen entwickeln (Neville, Isaac, Mrs Minchin, der Maler J. Webb).
Fazit:
Der kurze Roman, der durch eingefügte Bildbeschreibungen in festem Rhytmus Lucys besondere Art des Sehens hervorhebt, mag manchem zu gewollt erscheinen. Zu viele historische Details zur Geschichte der Fotografie, zu viele glückliche Zufälle, zu viele Tote, zu viele Wiederholungen ähnlicher Muster. Lucys früher Tod, für ihre Zeit nicht ungewöhnlich, bringt den Leser auf den Boden der Tatsachen zurück. Nach der Lektüre von Perdita hat Sechzig Lichter nicht alle meine Erwartungen (z. B. an die Fotografentätigkeit der Hauptfigur Lucy) erfüllt, mich wegen seiner sprachlichen Qualität trotzdem nachhaltig gefesselt.