Dionne Brand: Wonach sich alle sehnen
Atrium-Verlag 2007. 382 Seiten
ISBN 978-3855350407
Originaltitel: What we all long for
Übersetzer: Matthias Müller
Über die Autorin:
Dionne Brand, geboren 1953, wuchs in Trinidad auf und ging mit 17 Jahren nach Toronto an die Universität und studierte Englisch und Philosophie. Sie engagierte sich im Immigrant Women's Centre und im Kampf gegen Rassismus, sie war Gründungsmitglied der International Coalition of Black Trade Unionists. Sie hat vier Dokumentarfilme gedreht, debütierte zunächst mit Sachbüchern über Rassismus und Black Women's History und mit Lyrik, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde, z.B. mit dem renommierten Governor's General Award, mit Kanadas First Novel Award und mit dem Trillium Award. "What we all long for" ist ihr dritter Roman. Dionne Brand ist Dozentin für Englische Literatur an der School of English und für Theaterwissenschaften und Kreatives Schreiben an der Universität von Guelph. Quelle: Verlagsseite
Verlagstext:
Vietnam, 1970. Es ist Krieg. Es ist Nacht. Ein Ehepaar versucht verzweifelt, mit ihrem sechsjährigen Sohn Quy aus dem Land zu fliehen. Als sie das rettende Boot erreichen, ist der Junge verschwunden. Es bleibt ihnen keine Wahl, sie müssen ohne ihn aufbrechen. Ihr Ziel heißt Kanada.
Toronto, 2002. Carla, Jackie, Oku und Tuyen sind jung, befreundet und genießen das Großstadtleben. Sie alle sind in Toronto geboren und Kinder von Einwanderern der ersten Generation. Sie alle versuchen, ihren Weg zu finden. ... "Wonach sich alle sehnen" ist ein packender, herzergreifender und kosmopolitischer Roman über Identität, Verlangen und Verlust.
Zum Inhalt:
Tuyen, Carla, Jackie und Oku sind als Kinder von Einwanderern offiziell in Kanada geboren. Kurz vor ihrem Schulabschluss stellen sie übereinstimmend fest, dass sie offenbar falsche Pässe besitzen; denn sie fühlen sich unter ihren "weißen" Klassenkameraden als Außenseiter. Alle vier würden gern unabhängiger von den Eltern leben, allen fielen die Anforderungen der Schule leicht und alle sind ein Leben in zwei Dimensionen gewohnt. Jeder von ihnen ist zu Hause einer Peinlichkeit auf Gegenseitigkeit ausgesetzt. Eltern und Geschwister sind ihnen so peinlich, dass sie am liebsten ganz darüber schweigen; die Eltern schämen sich der aus ihrer Sicht unangepassten Kinder, die nicht ihren traditionellen Vorstellungen von Respekt, Leistungswillen und Dankbarkeit entsprechen. Das Leben der Vier im Toronto des Jahres 2002 wird vom Warten aufeinander und auf ein unbestimmtes Glück bestimmt, sowie durch heftige Konflikte in ihren Ursprungsfamilien.
C a r l a und Tuyen wohnen in benachbarten Einzimmerwohnungen, die zum Treffpunkt einer Szene der Unangepasssten geworden sind. Carla arbeitet als Fahrradkurier, Tuyen dokumentiert als freischaffende Künstlerin in Fotos und Skulpturen das städtische Leben und sammelt Aussagen, wonach die Menschen sich sehnen. Tuyens unausgesprochene Hoffnungen auf eine Zweierbeziehung zu Carla kompliziert das Verhältnis der Frauen. Carla, die sich nicht entscheiden kann, ob sie auf Frauen steht, wird völlig von ihrem missratenen Bruder Jamal mit Beschlag belegt. Jamal war schon immer ein wildes Kind mit einem Talent sich in Gefahr zu begeben. Er möchte von seiner Schwester wie ein Kleinkind umsorgt werden und fordert aus der Haft heraus von ihr die Beschaffung einer üppigen Kaution. Carla war gerade alt genung, um das Baby zu halten, als ihre Mutter ihr Jamal in die Arme drückte und dann vom Balkon in den Tod sprang. Seitdem sind Bruder und Schwester, die schwarze Vorfahren haben, in eine verfahrene Familiensituation zwischen Vater und Stiefmutter vertrickt. Oku wartet ebenfalls, auf eine Beziehung zu Jackie.
T u y e n s vietnamesische Eltern haben mit ihrem Restaurant bescheidenen Wohlstand erarbeitet. Zwei ältere Schwestern sind noch in Vietnam geboren. Der ältere Bruder Quy ist bei der Flucht aus Vietnam von der Familie getrennt worden und wird seitdem vermisst. Die Mutter sucht ihn seitdem und hat an angebliche Helfer eine gehörige Geldsumme eingebüsst. Quys Geschichte wurde in der Familie nie ganz erzählt, nie ganz übersetzt. Die Eltern Vu leben in einer fernen Vergangenheit jenseits des chinesischen Meeres; Vater Vu erwartet Dankbarkeit dafür, dass er seinen Kindern den Teppich für ein besseres Leben ausgelegt hat. Tuyen und ihr Bruder B i n h müssen von klein auf ihrer Umwelt die Eltern erklären, dolmetschen und alle Behördenangelegenheiten der Familie erledigen. Die Lotsentätigkeit in der fremden Kultur, die sie innerlich ablehnen, überfordert die Kinder, macht sie aber auch gewitzt. Inzwischen sind Binh und Tuyen längst erwachsen, können sich aber immer noch nicht aus alten Mustern ihrer Geschwisterbeziehung lösen. Die zweite Generation der Vus ist auf der Suche nach ihrer Rolle und will sich endlich von der Last der Verantwortung für die Familie befreien.
"Binh war ein Söldner, der in den Schützengräben der Kindheit gelernt hatte, seinen Willen zu bekommen. Und bei dem speziellen Krieg, der im Hause der Vus geführt wurde, bestand das darin, alle Aufmersamkeit aufzusaugen. Wie seine Geschwister nahm er das Vakuum wahr, das durch jene längst vergangene Nacht in der Bucht an der vietnamesischen Küste in seinen Eltern zurückgelassen worden war, und er ging sehr weit in seinen Bemühungen, diesen namenlosen Raum zu füllen." (S. 149)
J a c k i e betreibt einen Secondhand-Laden. Ihre Eltern kamen als sehr junges Hippie-Paar jamaikanischer Herkunft aus Nova Scotia nach Toronto. Während die Eltern in Musikkneipen unterwegs waren, wuchs Jackie zu einem Kind heran, das auf sich selbst aufpasste. In den Wunschvorstellungen der Eltern wird Halifax rückblickend zum Paradies und Toronto zur Höllle. In Jackies Geschichte (die ein neutraler Erzähler vorträgt) werden die Veränderungen der Stadt deutlich. Wo früher die Lieblingskneipe der Eltern war, wird heute längst mit Drogen und Menschen gehandelt.
O k u ist einseitig in Jackie verknallt, eifersüchtig auf ihren deutschen Lover, den er "Bubi" nennt. Oku hofft auf dem Umweg über Carla und Tuyen, an Jackie heranzukommen. Offiziell studiert Oku Literatur, seine Eltern fragen sich, warum es nicht ein anderes Fach sein kann oder warum ihr Sohn nicht Geld mit körperlicher Arbeit verdient. Nuyens und Okus Familien wollen als erfolgreiche Aufsteiger nur das Beste für ihre Kinder. Wie sie sich dieses bessere Leben vorstellen, darüber ringen die beteiligten Parteien unversöhnlich miteinander.
Zeitlich versetzt erinnert sich Q u y in Rückblenden, wie er während der Flucht aus Vietnam von seiner Familie getrennt wurde und plötzlich auf einem Boot mit lauter Fremden unterwegs war. Jahrelang lebt er in einem Barackenlager in Malaysia, verdient dort seinen Lebensunterhalt selbst. Später wird er von einem buddhistischen Mönch unterrichtet und in Thailand als Bote für dessen merkwürdige Geschäfte eingesetzt. Werden Quys Wege noch einmal die seiner Familie kreuzen?
Fazit:
Die komplexen Beziehungen ihrer vier Einwandererkinder unterlegt Dionne Brand mit dem Zauber der Stadt Toronto, die weltweit als Synonym für kulturelle Vielfalt und gleungene Integration ihrer Einwanderer steht. Carla auf ihrem Botenrad erlebt die Stadt als Anordnung von Hindernissen, die sie umfährt. Tuyen will als Chronistin des Zeitgeschehens Torontos polyphones Rauschen dokumentieren. Jamal nimmt die Stadt mit Sinnen auf, die im Verteilungskampf um Reviere und Absatzmärkte trainiert wurden. Verwerfungen zwischen Herkunft und Nationalität ihrer Protagonisten deutet Brand nur an. Im Kanada der Gegenwart kann man häufig nur schwer ergründen, woher jemand "stammt", wenn z. B. alle vier Großeltern unterschiedliche Wurzeln haben. Solch feine Nuancen, ob die Vorfahren nun aus Jamaica oder aus Afrika einwanderten, sind meist nur für ausländische Besucher interessant. Carla hat zwar schwarze Vorfahren, wird aber nur von Schwarzen als eine der ihren erkannt. Für wen sollte ihre Abstammung wichtig sein, außer für Carla selbst, wenn sie Jamal gerade mal wieder als bemitleidenswertes schwarzes Opfer von Polizeiwillkür sehen will?
Den tiefgreifenden Konflikten in Einwandererfamilien, die z. B. auch Christina Chiu schon treffend in ihren Kurzgeschichten "Schwarze Schafe und andere Heilige" zeichnete, spürt Brand bis weit in die feinen Verästelungen der Beziehungen nach. Ungelebte Trauer, Eifersucht, Minderwertigkeitsgefühle, sich als Sohn oder Tochter unverstanden fühlen, den Eltern und sich selbst das Scheitern unrealistischer Pläne eingestehen - den familiären Verschiebungen und Facetten ihrer Figuren forscht hier eine kluge, warmherzige Autorin nach, die sich seit langem für Einwanderinnen und gegen Rassismus engagiert. Schicksale wie das Tuyens oder Carlas könnte es in vielen Großstädten geben, "Wonach sich alle sehnen" lässt sich mit großer Allgemeingültigkeit als Familien- oder Großstadtroman lesen. Es überrascht mich, dass dieses auch sprachlich herausragende Buch in Deutschland bisher kaum Beachtung gefunden hat.