Kein Gott in Sicht - Altaf Tyrewala

  • Kein Gott in Sicht ist eine ganz außergewöhnliche Geschichte, eigentlich kein zusammenhängender Roman, sondern ein Sammelsurium von Momentaufnahmen aus den unterschiedlichste Schichten Bombays.
    Wie ein Staffelstab wandert der Leser durch das moderne Bombay, um am Ende wieder an seinen Ausgangspunkt zurückzukommen. Meist wird in der Ich-Perspektive auf wenigen Seiten das Denken und die Wahrnehmung eines Menschen geschildert, im nächsten Kapitel wird dann der „Stab“ weitergegeben an eine Person, die Teil der vorherigen Szene war. Das kann ein kaum beachteter Bettler sein, ein Familienmitglied, das natürlich eine ganz andere Sicht auf die Dinge und das Familienleben hat, oder die andere Konfliktpartei in einem Streit. Durch diese einzelnen Szenen die eigentlich nur personell, aber kaum inhaltlich zusammenhängen, ensteht das Mosaik einer Gesellschaft mit einerseits ganz vertrauten Nöten, andererseits aber sehr fremden Sicht- und Denkweisen.
    Wie in vielen zeitgenössischen Romanen aus Indien, erwachsen die Konflikte dieses Buches nicht der Kluft zwischen arm und reich oder den Ungerechtigkeiten des Kastensystems, sondern sie ziehen sich quer durch alle Gesellschaftsschichten und sind tief in den Religionen verwurzelt. Die jahrzehntelange Diskriminierung der muslimischen Minderheit und die aktuelle Angst vor dem islamistischen Terrorismus führt dazu, dass die indische Gesellschaft ein Pulverfass ist, das jeden Augenblick explodieren kann.


    Und das ist auch der rote Faden in diesem Buch: das Unheil, dass aus diesem religiösen Konflikt, der zudem noch überlagert wird vom hinduistischen Nationalismus, resultiert, und dass trotz der allgegenwärtigen Religion kein Gott in Sicht ist (man würde ihn im Lärm der Straßen Bombays auch gar nicht vernehmen).
    Das klingt ja nun alles gar nicht lustig, aber Tyrewalas große Kunst besteht nun darin, dieses Unheil in ungeheuer humorvolle Episoden zu packen, und auch wenn manchmal der Zaunpfahl wedelt wie ein Lämmerschwanz, ist dieses Buch ein ganz wunderbares Portrait einer Megacity und seiner Bewohner.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)