Dick, doof und arm - Friedrich Schorb

  • „Dick, doof und arm?“, wie der Titel verrät, geht es in diesem Buch um „Tatsachen“, die wir alle zu kennen glauben: Die Deutschen sind zu fett. Weil sie zu viel essen. Die Unterschicht ist noch fetter, weil sie nicht nur zuviel, sondern auch zu fett und zu ungesund isst. Und den ganzen Tag nur Fernsehn guckt. Unterschichten-TV, natürlich. Diesem Vorurteil, das so gesellschaftsfähig ist, dass es schon mal die eine oder andere Meldung in der Tagesschau wert ist, geht Schorb auf den Grund.
    Und da Schorb Sozialwissenschaftler ist, geht er die Sache nicht nur aus medizinisch-biologischer Sicht an, sondern betrachtet auch die gesamtgesellschaftliche Dimension des „Problems“ Übergewicht.


    Zunächst einmal geht er der vielbeschworenen „Epidemie“ auf den Grund: Stimmt es eigentlich, dass wir immer dicker werden? Erstaunlicherweise ist zwar tatsächlich ein Anstieg des durchschnittlichen BMI nach dem zweiten Weltkrieg zu beobachten, allerdings flacht der schon in den 90er Jahren deutlich ab. Warum aber ist erst in den letzten Jahren das Übergewicht zu einem Dauerbrenner in den Medien geworden? Warum geistern selbst nachgewiesene Falschmeldung hartnäckig durch die Medien?


    Neben diesem medialen Phänomen, betrachtet Schorb auch die grundsätzliche Bedeutung des Übergewichts, seiner Definition und tatsächlichen Auswirkung auf das Individuum.
    Was steckt dahinter, dass durch eine Änderung der Definition von Übergewicht über Nacht schlagartig bis dato schlanke Menschen übergewichtig wurden? Und warum wird hartnäckig behauptet, dass ein BMI über 25 Übergewicht bedeutet und folglich gesundheitsschädlich, liegt doch die statistisch höchste Lebenserwartung bei einem BMI zwischen 25 und 30. Cui bono?
    Schorb vermutet wirtschaftliche Interessen, aber auch das ist nicht so richtig neu.


    Spannend wird es, wenn er sich den sozialen Aspekten des Übergewichts zuwendet. Wer dick ist, ist zügellos und faul. Eigenschaften, die so gar nicht in unsere Leistungsgesellschaft passen, weshalb auch klar wird, dass diese Merkmale in Teilen der Gesellschaft verortet sein müssen, die am Rande derselben stehen, der vielzitierten Unterschicht. Und da stoßen wir in einen Bereich voller Vorurteile, die nach aktuellen Studien zwar keineswegs zu halten sind, sich aber dennoch auch bei Politikern von Künast bis Sarrazin, ungebrochener Beliebtheit erfreuen: die Armen ernähren sich nur von Junkfood und Süßkram (dabei wird laut Verzehrsstudie hier genau so viel Obst gegessen wie in der Mittelschicht) und rennen ständig zu McDoof (dabei entsprechen solche Ausflüge eher dem, wenn wohlhabendere Familien in die Pizzeria gehen, was aber für arme Menschen einfach nicht finanzierbar ist)
    Exklusion, etwa durch Erniedrigung, ist ein altbekanntes Phänomen in der Soziologie (wie z.B. gerade eine Ausstellung über Armut in Trier zeigt) und damit nähern wir uns einem weiteren Grund für die Verteufelung des Übergewichts: als Abgrenzungsmerkmal einer zunehmend verunsicherten Mittelschicht. Denn plötzlich, nach den goldenen Jahren der Bundesrepublik, war sie wieder da, die längst ausgestorben geglaubte Unterschicht und mit ihr die Abstiegsängste. Für mich als gelernte Naturwissenschaftlerin waren gerade diese gesellschaftspolitischen Betrachtungen zu Thema, ziemlich spannend.


    Die Auswirkungen dieses momentanen Diskurses sind fatal: nicht nur, dass bereits im Kindesalter eine soziale Ausgrenzung stattfindet (die im Erwachsenenalter soweit reicht, dass übergewichtigen Menschen bestimmte medizinische Behandlungen vorenthalten werden), sie führt auch zu einer vollkommen verkorksten Selbstwahrnehmung (weitaus mehr Kinder schätzen sich selbst als zu dick ein, als es in Wirklichkeit sind) und weit verbreiteten Essstörungen.


    Dieses komplexe Thema aus medizinisch-biologischen Mechanismen, gesellschaftlichen Kräften und finanziellen Interessen arbeitet Schorb ordentlich ab, auch wenn er manchmal etwas ins Schlingern gerät. Vieles, was er schreibt, ist schon lange bekannt, durch die soziologische Betrachtung habe aber zumindest ich doch einige neue, spannende Aspekte zum Thema erfahren. Da kann ich dann gerne über die etwas reißerische Aufmachung des Buches hinwegsehen.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)