Heimat als Utopie - Bernhard Schlink

  • Der Inhalt des Buches basiert auf einem Vortrag, der unter dem Titel "The place of Heimat" 1999 an der American Academy of Berlin gehalten wurde. Der Vortrag wurde in Berlin und auch spaeter bei anderen Gelegenheiten auf englisch gehalten. Bezeichnenderweise hat Schlink den so urdeutschen Begriff "Heimat" dabei nicht uebersetzt.


    "So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat - letztlich hat sie weder einen Ort, noch ist sie einer. Heimat ist Nichtort. Heimat ist Utopie."


    Das ist Bernhard Schlinks Arbeitshypothese zur Definition "Heimat", wobei er hier die woertliche Bedeutung des griechischen Ursprungs [griechisch kann die buechereule wohl nicht] Nicht Ort meint. Das ist auch fuer mich ein ungewoehnlicher und anfangs auch irritierender Augangspunkt. Denn fuer mich ist Heimat ein ortsgebundenes Gefuehl. Heimat ist dort, wo meine Wurzeln sind. Dieses Gefuehl hat sich fuer mich auch nach der Lektuere dieses Essays nicht geaendert, es ist aber um neue Perspektiven bereichert worden.


    Schlink beginnt seine Ausfuehrungen zum Thema Heimat mit dem Gegenbegriff, dem des Exils und der Entfremdung. Er basiert seine Argumente dabei auch auf weiterfuehrende Definitionen der Entfremdung wie die des Marxismus. Doch zunaechst ist das Exil auch etwas sehr pragmatisches. Da ist es zuerst die fremde Sprache, die zur Entfremdung fuehrt. Etwas, das viele von uns schon erlebt haben. Doch interessanterweise kann das Gefuehl der Entfremdung auch am Heimatort entstehen, wenn man sich von der Gemeinschaft ausgeschlossen fuehlt.


    Unsere leidenschaftlichsten Beschreibungen einer Heimat kommen oftmals aus einem Gefuehl des Heimwehs. Und eigentlich zeigen gerade diese Beschreibungen, dass diese Heimat eigentlich gar nicht mehr existiert - denn auch wenn der Ort der Kindheit noch existiert, so ist die Kindheit vorbei, die Grosseltern vielleicht schon tot, die Strassen haben sich veraendert - die Heimat, die unser Heimweh meint, existiert nicht mehr, ist Nich-Ort.


    "Heimat ist Utopie: Am intensivsten wird sie erlebt, wenn man weg ist und sie einem fehlt; das eigentliche Heimatgefühl ist Heimweh. Erinnerungen und Sehnsüchte machen den Ort der Sehnsucht zur Heimat"


    Heimat ist aber nicht nur ein Gefuehl, Heimat wird auch politisch und ideologisch besetzt. Schlink beschreibt sehr gut die Gefahren, die daraus entstehen. Und auch die juristischen und menschenrechtlichen Seiten. Er verweist dabei auf Hannah Arendt und hat mich sehr neugierig auf ihre Arbeiten zu dem Thema gemacht. Ich hab Hannah Arendts Essay „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“ hier gefunden und finde es ebenfalls sehr empfehlenswert.


    Ich selber hab diesen sehr zum Nachdenken anregenden Text im Rahmen einer Leserunde mit anderen deutschen Auswanderern hier in der Stadt gelesen. Unsere Diskussion war also sehr deutlich auch mit persoenlichen Erfahrungen angereichert. Vieles was Schlink beschreibt, koennen wir sehr gut nachvollziehen. Auch wenn ich immer noch nicht seiner Meinung bin was es bedeutet Wurzeln zu schlagen ;-)


    Fazit: Heimat als Utopie - ein anfangs eher provozierender Titel wird unter Bernhard Schlinks Federfuehrung schnell zu einem sehr anregenden Diskurs, der zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Und dazu braucht man nicht im Exil zu leben!

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

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  • Schlink ist von Haus aus Jurist und begann seine Schriftstellerkarriere mit Sachbuechern, in erster Linie jurisitische Fachliteratur. Ich finde sein zumeist nuechterner und sachlicher Schreibstil auch in den Romanen zeigt es auch etwas. Am besten haben mir die Essays unter dem Titel Vergangenheitsschuld: Beiträge zu einem deutschen Thema gefallen - das ist ja eigentlich wirklich DAS Pendant zum Vorleser!


    "Heimat als Utopie" ist auch aus schriftstellerischer Sicht ein besonderes Thema. Mir gefiel dabei besonders eine Stelle, in der Schlink Czeslaw Milosz zitiert. Er sagt ueber Schriftsteller im Exil:


    "[In the country he comes from] he was aware of his task and people were waiting for his words, but he was forbidden to speak. Now where he lives he is free to speak, but nobody listens and, moreover, he forgot what he had to say."

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Ein sehr spannendes Thema.
    Kürzlich habe ich mein Poesiealbum wiedergefunden und bin über den Spruch "Vergesse nie die Heimat, wo deine Wiege stand, du findest in der Ferne, keine neues Heimatland" gestolpert.
    Zwar habe ich nur zweimal für einige Monate im Ausland gelebt, wohne aber mittlerweile die Hälfte meines Lebens fern der Heimat. Wenn ich das richtig verstanden habe, geht's mir wie Schlink: es ist der Ort meiner Kindheit, vertraut, schön, meine Eltern leben dort. Aber Wurzeln? Das habe ich dort keine, vielleicht, weil meine Vorfahren aus allen möglichen Gegenden in Deutschland kommen. Ich fühle mich nirgendwo verwurzelt :gruebel
    Vielleicht ist ja Heimat nicht da, wo du herkommst, sondern da, wo du ankommst. Bei dir. :gruebel


    Ich werde mir das Buch wohl mal vornehmen, danke für die Vorstellung!

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Es ist ja eigentlich nur ein "Buechlein", denn es hat gerade mal 50 Seiten. Eigentlich auch gut zum schnell lesen, wenn auch das Thema eines ist, das einen nicht so schnell los laesst.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Zitat

    Original von Beatrix
    Am besten haben mir die Essays unter dem Titel Vergangenheitsschuld: Beiträge zu einem deutschen Thema gefallen - das ist ja eigentlich wirklich DAS Pendant zum Vorleser!


    Danke für diesen interessanten Hinweis, Beatrix! Über das Buch war ich auch grade im Thread zu "Der Vorleser" gestoplert, es wandert direkt auf meine Wunschliste.
    Ich bin gespannt darauf, Schlick als Sachbuchautor kennenzulernen.