Waters, Sarah, Der Besucher, Orig.titel „The little stranger“, Übersetz. Ute Leibmann, Lübbe Ehrenwirth, Köln, 2011, ISBN 978-3-431-03830-9
Zur Autorin (lt. Klappentext):
Sarah Waters geboren 1966, ist in Wales aufgewachsen und lebt heute als freie Schriftstellerin in London. Mit ihrem Roman „Der Besucher“ hat sie großes Aufsehen erregt: Er stand monatelang auf der englischen Bestsellerliste, war für den Booker Prize 2009 und den Orange Prize 2010 nominiert und erscheint in 35 Ländern.
Zur Leserunde bei den Eulen:
Leserunde "Der Besucher"
Meine Meinung:
Viktorianische Schauerromane und Romane in dieser Tradition haben mich schon immer angezogen, aber nicht oft ist es einem Autor gelungen, mich mit einem Roman dieses Genres so zu fesseln wie Sarah Waters mit ihrem Roman „Der Besucher“.
Als Dr. Faraday, Landarzt und Junggeselle mittleren Alters aus dem Arbeitermilieu, an einem Sommertag in der Nachkriegszeit nach Hundreds Hall, dem jahrhundertealten Stammsitz der Familie Ayres in Warwickshire, gerufen wird, werden bei ihm Erinnerungen an seine Kindheit wach. Bereits damals hatte Dr. Faraday, Sohn eines Kindermädchens der Ayres, die Gelegenheit das Anwesen zu besuchen, und war fasziniert von dessen prachtvoller, majestätischerErscheinung, die ihn magisch anzog und eine begierige Leidenschaft in ihm begründete. Doch nun, Jahre später, zeigt sich ihm Hundreds Hall stark vom Verfall gekennzeichnet. Seine Besitzer, die verwitwete Mrs. Ayres und ihre erwachsenen Kinder Roderick und Caroline sind kaum in der Lage ihren Besitz zu erhalten und dem Verfall Herr zu werden, ganz zu schweigen davon, einen Lebensstil zu führen, wie sie dies vor dem Krieg gewohnt waren. Sowohl die Ayres als auch Dr. Faraday, dem es bisher nicht gelungen ist, bei gehobenen Schichten Aufnahme zu finden, versuchen ihren Platz in der Gesellschaft des Nachkriegsenglands zu finden. Dr. Faraday erhält den Kontakt zu den Ayres und bald erfährt er von seltsamen Vorgängen im Haus, beginnend mit verschwundenen und an anderen Stellen wieder auftauchenden Gegenständen, Möbelstücken mit Eigenleben, kryptischen Zeichen, die plötzlich an den Wänden auftauchen und unerklärbaren bedrohlichen Geräuschen im Haus. Die Familienmitglieder der Ayres reagieren zunehmend panisch auf die Vorgänge im Haus, versuchen diese zu deuten und steigern sich in unterschiedlichste Erklärungsansätze hinein. Dr. Faraday hingegen versucht immer wieder natürliche Ursachen für die Ereignisse zu finden und die Familie damit zu beruhigen. Doch das Schicksal der Ayres nimmt unaufhaltsam seinen Lauf und das von Dr. Faraday wird immer enger mit dem der Ayres verbunden...
Sarah Waters gelingt es von der ersten Seite ihre Romanes an, das England der Nachkriegszeit und dessen gesellschaftlichen Veränderungen vor den Augen des Lesers bildhaft entstehen zu lassen. Der Verfall von Hundreds Hall spiegelt sich zunehmend in der Psyche seiner Bewohner. Dadurch ist ihre Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit so eindringlich gelungen, dass durchaus der Eindruck entstehen könnte, dass Sarah Waters einen exzellenten Gesellschaftsroman geschrieben hat – wenn da nicht die Elemente des Schauerromans wären.
Recht schnell wurden bei der Lektüre des Romans „Der Besucher“ bei mir Erinnerungen an „Rebecca“ von Daphne du Maurier, „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allan Poe, vor allem aber an „Das Durchdrehen der Schraube“ von Henry James wach. Ähnlich wie Henry James in „The Turn of the Screw“ erzählt Sarah Waters die Geschichte der Ayres mittels einer unzuverlässigen Erzählsituation: der Leser erfährt die Geschichte der Ayres aus Sicht von Dr. Faraday, ohne zu wissen, woher dieser sein Wissen über Situationen auf Hundreds Hall bezieht, die er selbst nicht als Augenzeuge erlebt hat und inwieweit seine Wahrnehmung von Situationen, die er miterlebt hat, der Realität entsprechen. Diese Erzählsituation führt zu einer Mehrdeutigkeit in den erzählten Geschehnissen auf Hundreds Hall, die eventuell die Meinungen der Leser spalten wird. Je nach Lesart wird der Roman als Auseinandersetzung mit dem Verfall der Oberschicht, die zwar eindrucksvoll aber wenig spannend ist, als paranormale Geschichte oder als psychologische Studie, die sukzessive das Grauen beim Leser anwachsen lässt, bewertet werden. Den Roman „Der Besucher“ so anzulegen, dass all diese Lesarten möglich sind, ist zweifellos eine Meisterleistung.
Der Lesesog, den Sarah Waters Roman bei mir hervorgerufen hat, beruht auf meiner Lesart als psychologische Studie, bei der sich schlussendliche Gewissheit erst auf den letzten Seiten des Romans einstellt, so wie sich bei einem komplizierten Puzzle erst mit dem letzten Teil ein Gesamtbild ergibt. Für mich ist damit auch der Schluss des Romans handwerklich vollendet gelungen und absolut zufriedenstellend.
Sarah Waters kombiniert in ihrem Roman „Der Besucher“ Elemente des Schauerromans mit einer präzisen Beobachtungsgabe sozialer Verhältnisse zu einem fesselnden und überzeugenden literarischen Unterhaltungsroman mit faszinierender Mehrdeutigkeit und Nachwirkung. Das Ende des Romans macht Lust auf eine zweite Lektüre, um Andeutungen aufzuspüren, die beim ersten Lesen nicht wahrgenommen oder ausreichend gewürdigt wurden. Für mich hat Sarah Waters Roman „Der Besucher“ alles, was nötig ist, um zu einem Klassiker des Genres zu werden.
10 von 10 Punkten