Alltägliches aufpeppen oder lieber nicht?

  • Hallo liebe Autoren und andere Büchereulen!


    Würde gerne etwas eure Erfahrung anzapfen.Was kommt beim Leser besser an: Etwas Alltägliches so authentisch wie möglich mit allen Gefühlen, Reflektionen und Schwierigkeiten der Protagonisten, zu erzählen oder dieses Alltägliche aufzupeppen, bzw. auf die Spitze zu treiben?
    Ein Beispiel: Es geht um einen Vater/Sohn-Konflikt, der sich bei einer Party in einem heftigenStreit entlädt. Käme es da besser an, wenn sich die beiden Protagonisten an die Gurgel gingen, einer dabei vielleicht krankenhausreif verletzt würde (oder wenn man es bis zum Äußersten treiben wollte, dass einer sogar stirbt) oder käme es besser an, wenn ich es - weil ich peinlich genau die Authenzität der Erzählung im Sinn behalte - bei einem heftigen Wortgefecht belassen würde?
    Würde ich diesselbe Geschichte der Wirkung wegen besser mit einem Transsexuellen (oder einem Außerirdischem?)aufpeppen oder der Authenzität wegen bewusst darauf verzichten?


    Klar, dass es immer etwas auf die einzelne Geschichte ankommt. Aber habt ihr den Kern von dem, was ich gerne wissen möchte, verstanden? Würdet ihr sagen, dass man es grundsätzlich mit alltäglichen Geschichten, die naturgetreu wiedergegeben werden, schwieriger hat, oder sind sie gerade weil der Leser sich damit identifizieren kann, sogar interessanter als aufgepeppte Erzählungen? Was sind eure Erfahrungen?

  • Zitat

    Original von tweedy39
    Was hätte der Außerirdische in diesem Konflikt zu suchen?


    Das ist es eben. Gar nichts hätte er in diesem Konflikt zu suchen. Das Beispiel war natürlich etwas überzogen. Aber in vielen Romanen und besonders in vielen amerikanischen Filmen bemerkt man überspitzte oder gar völlig unrealistische Elemente, die in eine Geschichte eingebaut sind, in der es um so etwas Alltägliches, wie einen Vater/Sohn-Konflikt geht. Anscheinend wollen sehr viele Leute so gerade so etwas lesen, bzw, sich ansehen...


    Wenn ich mir da angucke, was ich so schreibe, kommt mir das im Vergleich fast etwas bieder oder langweilig vor. In meiner Geschichte streiten sich die Leute, verprügeln sich aber nicht. Haut es aber heutzutage noch irgendwem vom Hocker, wenn man ganz auf Zuspitzungen oder effekthascherische Bestandteile verzichtet (selbst wenn die Geschichte interessant und mit Tiefgang geschrieben wäre)?

  • Ich denke grundsätzlich sollten Geschichten nicht immer den Anspruch haben, die Realität 1:1 abzubilden. Wenn du im Gefühl hast, diese oder jene Szene wirkt besser, wenn etwas mehr die Fetzen fliegen dann tu es. Wenn nicht dann nicht, es kommt ja auch darauf an was du vermitteln willst: "Alltägliches, Langweile, sich wiederholende Vorgänge" können auch ein Stilmittel sein um zu zeigen, wie verzweifelt der Protagonist sich in diesem Kreislauf fühlt.


    Konkret zu deinem Beispiel:
    Es spricht nichts dagegen das so sich so heftig in etwas hineinsteigern, dass der andere (vielleicht auch nur versehentlich) dabei stirbt. Natürlich gibt es Leser, die Gewalt abschreckt und wieder andere die es aufregend finden, gerade solche Szenen zu lesen. Recht machen wirst du es beiden Seiten nie. Es bleibt also ganz bei dir :-)

  • Zwei Gedanken dazu:


    Zum einen ist das eine Genre-Frage und eine Frage des persönlichen Stils. Willst du realistisch schreiben, dann schreibe realistisch, willst du lieber phantastisch schreiben, dann schreibe eben phantastisch. Da wirst du, glaube ich, keine eindeutige Antwort bekommen, sondern nur den jeweils persönlichen Lesergeschmack widergespiegelt bekommen. D.h. du wirst es nicht jedem Leser recht machen können.


    Vielleicht sind es auch weniger "Zuspitzungen", die du suchst, um deine Texte aufzupeppen, sondern originelle Wendungen. Ich muss gerade an ein Publkumsgespräch mit Ian McEwan nach einer Lesung denken, wo er über seinen Roman "Liebeswahn" geredet hat. Dort geht es darum, dass nach einem traumatischen Erlebnis (einem Ballonunfall mit tödlichen Ausgang) ein Beteiligter eine Obsession, einen Liebeswahn, zu einem anderen Beteiligten entwickelt. Der Roman ist aus der Sicht des Mannes geschrieben, der von diesem anderen Mann verfolgt wird. Wenn ich mich richtig erinnere, war es im ersten Entwurf eine Frau, die eine Obsession für einen Mann entwickelt hat. Er dachte dann aber, dass der Konflikt ja viel interessanter wäre, wenn es ein Mann ist. Was auch stimmt, denke ich. Genauso war es auch origineller einen Ballonunfall und keinen Autounfall als Auslöser zu verwenden. D.h. manchmal kann es durchaus hilfreich sein, sich zu fragen, welche kleine Änderung eine Idee noch interessanter machen kann, ohne es aber zu übertreiben.

  • Hi Tom,


    ein gut geschriebener Konflikt bezieht sein Zündpotential nicht aus der äußeren Inszenierung der Ereignisse, sondern daraus, was diese Ereignisse mit den Protagonisten anstellen.


    Um bei Deinem Vater-Sohn-Beispiel zu bleiben:
    Die Frage sollte nicht lauten: Wie kann ich den Konflikt mit 'Verzierungen' aufpeppen, oder sollte ich ihn überhaupt verzieren?
    Sondern: Wie schreibe ich diese Figuren so lebensecht, dass die Auseinandersetzung - egal, wie sie nun inszeniert ist - den Leser gemeinsam mit den beteiligten Protagonisten mitten ins Herz trifft? Und zwar gleichgültig, wie sie im Detail ausgetragen wird?


    Eine gute Auseinandersetzung würde die Streitenden zielsicher den wunden Punkt des jeweils anderen finden lassen - und dann genügt eine einzige Bemerkung, sowie die verletzte Reaktion des anderen, um das Kapitel mit dichter Spannung und dem Gefühl drohenden Verhängnisses enden zu lassen.
    Umgekehrt bringt eine spektakulär inszenierte Austragung überhaupt nichts (außer vielleicht unfreiwillige Lacher), wenn ihr das Herz fehlt, oder wenn sie aufgesetzt wirkt - d.h. den Charakteren nicht angemessen. Weil sie z.B. eher der ruhige, grüblerische Typ sind. Oder weil eine wilde Schlägerei zwischen einem zum Bauchansatz neigenden Postangestellten und dem zu klein und dünn geratenen Teenager von Sohn höchst unglaubwürdig wäre, vor allem, wenn sie beginnen, sich gegenseitig durch die Fenster zu werfen.
    Außer, es handelt sich um eine Parodie.
    Aber die will gut gemacht sein.



    Es kommt IMMER zuerst auf die Ausgestaltung der Personen an - ein guter Konflikt ist so maßgeschneidert auf die Protagonisten, dass er sie zielsicher bei ihrem größten Schwachpunkt erwischt. Am besten noch einen, über den sie sich nicht bewusst sind.



    Und noch ein Wort zur generellen Ausgestaltung von Szenen mit 'pompösen' Elementen:
    Das ist immer eine Gratwanderung. Ein Roman, der sich strikt reale Ereignisse nacherzählt, ohne jeden Kniff, ohne zusätzlichen dramaturgischen Schliff, wird u.U. trocken wie graues Brot. Die Realität hält sich selten an dramatische Vorgaben.
    Das Vollstopfen mit Spezialeffekten hilft aber nicht, denn die Kunst ist es, den Plot, die Charaktere, die Konflikte so zu formen, dass sie Spannung in der richtigen Dosis erzeugen. Das hat wirklich überhaupt nichts damit zu tun, ob bei es der Auseinandersetzung von Vater und Sohn beim Anbrüllen bleibt, oder der Sohn dem Vater mit dem zerschlagenen Sektkelch die Kehle aufschlitzt. Im Zweifel ist weniger mehr, denn wer solche Elemente nicht irrsinnig gut zu handhaben weiß, macht sich schnell lächerlich.
    Die Erwartungen z.B. an einen Thriller entsprechen heutzutage nicht mehr ganz denen vor - sagen wir mal, fünfzig Jahren. Also Ian Flemmings James Bond Romane würden heute wohl wegen mieser Recherche und Oberflächlichkeit zerfetzt werden und es u.U. nicht über den Lektorentisch schaffen. Oder höchstens noch ins Heftchenroman-Ressort.
    Wer heute über Explosionen, Schießereien und wilde Bootsverfolgungsjagden durch die Everglades schreibt, hat besser eine seeehr genaue Vorstellung davon, wie sich eine Waffe abfeuert, ab welcher Entfernung eine Sprengung welchen Schadn anrichtet und wie man genau ein Boot steuert bzw. ab welcher Geschwindigkeit man es nicht mehr steuern kann... und das gilt genauso für exotische Schauplätze. Entweder man probiert das alles selbst aus, oder hat zumindest jemanden, der es einem ganz genau sagen kann.


    Im Zweifel ist weniger dann mehr.



    //edit - noch als Ergänzung:
    Natürlich setzen Genre und Persönlichkeitsstruktur der Protagonisten auch die Vorgabe für die Effektlastigkeit von Szenen.
    Der lautstark keifend ausgetragene Streit zwischen zwei Nachbarinnen über den Gartenzaun hinweg, bei dem die Wut der einen darin gipfelt, dass sie einen Apfel aufhebt und nach Nachbars Katze schmeißt, wäre vielleicht unangemessen, wenn es stattdessen um die Auseinandersetzung zwischen Erzengel Gabriel und dem ersten Fürsten der Hölle ginge. Wenn die sich über einen Zaun hinweg mit Äpfeln beschmeißen, käme das ungefähr genauso lächerlich, wie wenn Frau Hilde und Frau Schmidt mit Flammenwerfern aufeinander losgehen und Zauberblitze schießen.
    Das entscheidende Wort lautet ---Verhältnismäßigkeit---



    so long -
    Andrea

  • Danke an alle für die aufschlussreichen Antworten.


    Googol
    Sehr interessant,die Überlegungen Ian McEwan´s in Verbindung mit seinem Roman "Liebeswahn" zu lesen.Dieses Beispiel geht schon sehr genau in die Richtung, in welche meine Frage abzielte...


    agu
    Was du ausführst, klingt vernünftig, ist gut nachzuvollziehen und entspricht auch meinen persönlichen Erwartungen an einen guten Roman (obwohl ich es nicht so gut auf den Punkt hätte bringen können wie du).
    Klar, ich stimme dem zu, aber tun potentielle Leser das auch?
    Etwas unsicher wurde ich, nachdem ich am Wochenende an meinem Roman geschrieben habe und mir kurz darauf im Fernsehen Doku-Soaps angeschaut habe (Mitten im Leben, Verdachtsfälle, Familien im Brennpunkt, usw, auf RTL). In meiner dialoglastigen Erzählung streiten sich die Protagonisten nur, in den Doku-Soaps werden sie fast immer handgreiflich. Die Handlung bekommt dort eine im realen Leben eher unwahrscheinliche Richtung,die dann auch noch auf die Spitze getrieben wird.
    Zudem kam mir ein Beitrag aus einer Leserunde (3096 Tage von Natascha Kampusch) in den Sinn, in dem eine Userin schrieb, dass in den einleitenden Kapiteln für ihren Geschmack zu viel Alltägliches geschrieben worden ist...

  • Abgesehen von der sehr hilfreichen Anmerkung, die Verhältnismäßigkeit müsse gewahrt sein, um glaubwürdig zu bleiben, geht es um eine Abwägung zwischen Überspitzung und Originalität - insofern eines von beiden oder gar beides überhaupt nötig ist. Konflikte müssen nicht übergroß oder gar menschheitserschütternd sein, um das Lebensgebäude der Protagonisten zu gefährden. Eine Keule zerschlägt auch viel abseits ihres eigentlichen Ziels. Ein Nadelstich kann viel schmerzhafter ausfallen - ohne Kollateralschaden (z.B. bezogen auf die Glaubwürdigkeit der Geschichte) zu erzeugen.


    Es hängt aber auch vom Genre ab. In der ChickLit häufen sich die lustigen Zufälle, in ernsthafter(er) Gegenwartsliteratur wird man Deus ex machina eher meiden. Aber der Fiktionsraum, den ein Roman bietet, verdichtet auch, weshalb man nicht versuchen sollte, zu authentisch zu werden - das wird nämlich schnell langweilig. Die richtige Dosierung macht's. Und die hat man im Gefühl - oder eben nicht. Originalität ist gut, fast zwingend. Übertreibung vernichtet Geschichten, wenn sie nicht (ausschließlich) auf Übertreibung ausgelegt sind.


    Allerdings halte ich "Liebeswahn" für kein gelungenes Beispiel. Ballon oder Auto, Mann oder Frau - das mag für jene Leser relevant sein, denen die Tiefen dieser Geschichte verborgen bleiben. Auf alle anderen mögen diese - rückblickend betrachtet ein wenig aufgesetzt wirkenden - Elemente eher störend wirken. Oder wenigstens irrelevant. Beides spielt nämlich unterm Strich so gut wie keine Rolle.

  • Zitat

    Original von Tom
    Abgesehen von der sehr hilfreichen Anmerkung, die Verhältnismäßigkeit müsse gewahrt sein, um glaubwürdig zu bleiben, geht es um eine Abwägung zwischen Überspitzung und Originalität - insofern eines von beiden oder gar beides überhaupt nötig ist. Konflikte müssen nicht übergroß oder gar menschheitserschütternd sein, um das Lebensgebäude der Protagonisten zu gefährden. Eine Keule zerschlägt auch viel abseits ihres eigentlichen Ziels. Ein Nadelstich kann viel schmerzhafter ausfallen - ohne Kollateralschaden (z.B. bezogen auf die Glaubwürdigkeit der Geschichte) zu erzeugen.


    Aber der Fiktionsraum, den ein Roman bietet, verdichtet auch, weshalb man nicht versuchen sollte, zu authentisch zu werden - das wird nämlich schnell langweilig. Die richtige Dosierung macht's. Und die hat man im Gefühl - oder eben nicht. Originalität ist gut, fast zwingend.


    Danke für deine aufschlussreichen Ausführungen.


    Wie siehst du diesbezüglich Fjodor M. Dostojewsky? Nehmen wir einmal an, er würde seine Romane heute schreiben. Würde seine geniale Einfühlungsfähigkeit kombiniert mit der ebenso genialen Gabe, die Gefühlslage seiner Protagonisten in Worte zu kleiden, in der heutigen Zeit ausreichen für einen guten Roman? Wäre ein Roman wie "Der Idiot" in einer Zeit, in der wir mit Fernsehfilmen überflutet werden, in denen ganz ähnliche Konflikte dargestellt werden, überhaupt noch etwas, das die Leute vom Hocker reißt? Oder müsste man sich da von Vornherein Gedanken machen, wie man einen solchen Roman aufpeppen kann, damit er von potentiellen Lesern angenommen wird?