Originaltitel: Sorry
Klappentext:
Perdita wächst bei ihrer wahnsinnigen Mutter und ihrem verbitterten Vater in der australischen Wildnis heran, in einer Hütte voller Zeitungsausschnitte über den Zweiten Weltkrieg und vermodernder Bücher, in denen Schlangen hausen. Die Shakespeare-Zitate der Mutter bilden die Grundlage von Perditas spärlicher Bildung. Verwildert und frei, sucht sie Liebe bei dem taubstummen Sohn der Nachbarn und in dem Aborigine-Hausmädchen Mary. Perdita scheint zufrieden mit ihrem Leben in diesem gottverlassenen Winkel der Erde bis zu dem Tag, an dem ihr Vater erstochen aufgefunden wird. Mary bekennt sich schuldig und wird verhaftet, Perdita verliert das Gedächtnis und kann fortan nur noch flüstern und stottern. Erst als sie die wahren Umstände des Mordes zu erinnern gezwungen ist, findet sie auch ihre Sprache wieder ... Gail Jones verwebt die Biografien ihrer Figuren über Generationen und Kontinente hinweg. Shakespeares Dramen und Sonette, Joseph Conrad, Emily Dickinson und andere bilden die literarische Kulisse dieser Geschichte über Erinnern und Vergessen, Verlust und Sprache, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Perdita ist Gail Jones Beitrag zur Debatte um die Entschuldigung der australischen Regierung für ihre unmenschliche Behandlung der Aborigines.
Über die Autorin:
Gail Jones, geboren 1955 in Westaustralien, unterrichtete Englisch, Kommunikation und Kulturwissenschaft an der University of Western Australia, heute lebt und arbeitet sie in Sydney. Ihre Bücher sind im englischsprachigen Original sämtlich mehrfach ausgezeichnet. "Perdita" stand 2008 auf der Short List des Miles Franklin Award und auf der Long List des Orange Prize.
Meine Meinung:
Perditas Mutter Stella träumt in ihrem neuen Land oft den Schneetraum: Große weiße Flocken fallen sanft und scheinen sich in Luft aufzulösen, sie erzeugen ein Gefühl des Schwebens und löschen Erinnerungen aus.
Stella fühlt sich in der Schwebe, seit sie von ihrem Mann aus London nach Australien verschleppt wurde, wo er bahnbrechende Entdeckungen als Anthropologe machen will. Es ist keine Liebe zwischen ihnen, die Hochzeit sollte ihre bescheidenen Leben mit Sinn erfüllen. Die Behausung im Busch irgendwo bei Broome ist armselig, eine windschiefe Hütte ohne Strom und Wasser, die Mitglieder einer Farmerfamilie sind die einzigen Weißen in der Nachbarschaft. Stellas Halt und Antwort auf alle Fragen ist Shakespeare; sie liebt und rezitiert vor allem die Tragödien. Für Stella ist völlig unbegreiflich, wie in dieser feindlichen Welt menschliches Leben entstehen kann, und sie hat keinerlei Muttergefühle für ihre Tochter Perdita.
Perdita wächst weitab von der Zivilisation auf. Sie ist allein, bis sie sich mit dem taubstummen Nachbarssohn Billy anfreundet, der sie wortlos versteht. Sie wird von ihrer Mutter unterrichtet, ohne Plan, ohne Struktur und mit Shakespeare als Hauptfach, und sie bekommt ein verdrehtes Halbwissen über die Welt. Bei ihren Streifzügen mit Billy erahnt sie, dass Shakespeare nicht die Antwort auf alle Fragen weiß. Sie bekommt eine ältere Schwester, als Mary in ihr Leben tritt. Mary ist die Tochter eines Weißen und einer Eingeborenen, wurde ihrer Mutter weggenommen und in ein Waisenhaus gesteckt. Nun soll sie Perditas Familie unterstützen, während Stella in eine Klinik muss, weil ihr Geist sich immer weiter von ihrem Körper entfernt.
Die drei Kinder haben eine glückliche Zeit, vor allem dann, wenn Perditas Vater nicht zu Hause ist. Mary zeigt Perdita und Billy die Geheimnisse des Busches und nimmt sie mit zu einer Sippe von Eingeborenen. Sie lesen viel, erzählen Geschichten und sind wie eine kleine, zerbrechliche Familie. Währenddessen tobt der zweite Weltkrieg; der Vater verfolgt das Kriegsgeschehen und tapeziert die Hütte mit Zeitungsartikeln über das Kriegsgeschehen.
Perdita begreift nicht, was manchmal nachts geschieht, wenn ihr Vater Mary wehtut. Mary bleibt auch, als Stella wieder nach Hause kommt, und hilft im Haushalt.
Das Familienleben findet ein schreckliches Ende. Perditas Vater wird erstochen, als er Mary vergewaltigt. Marys Kleid ist voller Blut des Ermordeten, Stella, Perdita und Billy werden Zeugen des Mordes. Mary gesteht ihre Schuld und wird eingesperrt.
An diesem Tag verliert Perdita ihre Sprache. Sie beginnt zu stottern, ihr Mund kann keine Worte mehr bilden und Billy fällt es schwer, ihr von den Lippen abzulesen. Über den Tod des Vaters wird nicht gesprochen. Aufgrund der Kriegsereignisse, die nun auch Australien erreichen, müssen Stella und ihre Mutter nach Perth flüchten, und so verliert Perdita auch noch Billy. Sie muss sich um ihre Mutter kümmern, ist isoliert in ihrer Sprachlosigkeit, fühlt sich wertlos und beschädigt.
Sprechen ist ein wichtiges Thema des Romans, beinahe noch wichtiger ist das Nicht-Sprechen. Was passiert, wenn das, was geschieht, nicht in Worte gefasst werden kann? Wenn Gedanken unausgesprochen bleiben? Perdita wird übersehen, fühlt sich unwichtig und immer kleiner. Sie hat Angst, eines Tages ganz zu verschwinden. Erst als sie zu einer Pflegefamilie kommt, weil ihre Mutter psychisch und physisch immer mehr zerfällt, erhält sie die Chance, die Sprache wiederzufinden und damit auch die Erinnerungen, die in den Flocken des Schneetraums verschwommen waren.
"Perdita" ist ein leises Buch über ein traumatisiertes Kind, über die Suche nach Liebe, nach Antworten, nach Halt, über das Staunen, über das Sichtbare und das Unsichtbare, über soziale Probleme im Australien der 1930er und 1940er Jahre. Die Geschichte ist verknüpft mit dem zweiten Weltkrieg - Menschen sind Ereignissen ausgeliefert; Kinder den Erwachsenen. Perdita erzählt im Rückblick; sie spricht von sich und den anderen meist in der dritten Person. Vieles erkennt sie erst, als sie selbst erwachsen ist. Einige wenige Passagen als Ich-Erzählerin lassen die Geschichte real erscheinen. Wundervoll geschrieben, tiefsinnig, lesenswert.