„Vielleicht eher wie Venedig“, sagt Eva.
„Vielleicht.“ Gedankenverloren nippt Laura an ihrem Wein.
„Man verliebt sich auf den ersten Blick in Venedig“, fügt Eva hinzu, „und mit der Zeit stellt man fest, daß es in dieser Stadt verdammt viele dreckige Hinterhöfe gibt. Genauso ist Frank.“
Kennengelernt hat Laura ihn dennoch in Wien, ausgerechnet in dieser Stadt, die sich so viel Zeit läßt, bis sie dem Fremden ihren Charme enthüllt. Er ist ihr sofort aufgefallen, groß und dunkelhaarig, eine dezent gemusterte Krawatte unter dem schweren Wollmantel zu erkennen, seine kräftigen Hände umschließen unberingt die Haltestangen des U-Bahn-Wagens. Als die Bahn stoppt, fällt sie gegen ihn und läßt sich gerne auffangen von diesen Händen, die später auch lederne Lenkräder und Damenjacken und Fischmesser zu halten verstehen. Da muß etwas in seinen Augen gewesen sein, das sie geblendet hat, besonders im Dunkel der Nacht.
„Glaub mir, der ist es nicht wert“, sagt Eva.
„Ich weiß“, antwortet Laura. Aber das nützt manchmal nichts.
Mit ihm ist Laura kreuz und quer durch halb Europa geflogen und gefahren. Eine Woche nach der Rückkehr aus Wien klingelt ihr Telefon, nicht erwartet, doch erhofft, und da seine Stimme ihren Magen einfach übertönt, findet sie sich zwei Tage später in Paris wieder. Die Stadt der Liebe läßt ihr wenig Zeit zum Schlafen und um so mehr für Träume, die sich manchmal sofort erfüllen und manchmal erst am Morgen, nachdem die aufgehende Sonne ihren Weg zurück zum Hotel beleuchtet hat. An diesen ersten warmen Frühlingstagen erscheinen ihr seine Schultern schmaler, wenn er ohne Mantel geht, doch seine Hände noch schöner mit der leichten Sonnenbräune. Sie sehen sich den Louvre an und den Arc de Triomphe, gehen Hand in Hand über Quai d’Orsay und Place de la Concorde und jeden Abend über die Champs-Élysées. Er gehört zu den Männern, die zu dieser Straße passen, die man nicht sofort als Touristen erkennt.
„Aber daß er den Montmartre nicht mochte, war schon ein schlechtes Zeichen“, sagt Eva.
„Paris war dennoch schön“, widerspricht Laura.
„Du hast es einfach nicht wahrhaben wollen“, seufzt Eva und läßt sich in ihrem Korbsessel zurückfallen.
Das hat erst in Spanien begonnen. In Barcelona bestaunen sie Hand in Hand die Kirchen zwischen Vorromanik und katalanischer Gotik, stehen trotz der Hitze umschlungen vor Gaudís Casa Milá. Vor der Plaza de Toros Monumental läßt sie zum ersten Mal seine Hand los, als sie merkt, daß sie ihn nicht zurückhalten kann. Er wirkt enttäuschter darüber, wie wenige Menschen an diesem Sonntagnachmittag den Stier sterben sehen möchten, und spricht von Tradition, wo sie über Liebe und Tod nachdenkt. Doch seine Finger, die ihre nun wieder fest halten, sind inzwischen unwiderstehlich sommerbraun, und auch in dem leichten Jacket wirken seine Schultern noch zum Anlehnen breit.
„Da hättest du es schon wissen müssen“, sagt Eva. Ihr Finger schwebt unschlüssig über der Pralinendose, ehe sie sich für Nougat entscheidet.
„Damals war es noch zu früh“, widerspricht Laura.
Außerdem ist in Prag wieder alles ganz anders gewesen. In der Goldenen Stadt verglüht die Abendsonne bedeutsamer als an anderen Orten. Lange bleiben sie auf der Karlsbrücke stehen und zählen mit Küssen jeden Wassertropfen, den die Moldau unter ihnen vorbeiträgt. Sie bewundern den mittelalterlichen Pulverturm in der Altstadt ebenso wie das Neustädter Rathaus. In der gotischen Kirche Maria Schnee überlegt Laura, ob ein weißes Kleid zu ihren blonden Haaren paßt.
„Wie immer viel zu blauäugig“, sagt Eva und schüttelt stirnrunzelnd den Kopf.
„Besser als zu pessimistisch“, entgegnet Laura. Sie legt den Kopf in den Nacken und betrachtet die Sternbilder des Sommers am wolkenlosen Himmel.
Das hat sie in London vergeblich versucht. Die Spiegelungen des Nachtlebens überstrahlen in dieser Stadt die Sterne. St. Paul’s Cathedral läßt sie ebenso unbeeindruckt wie die Westminster Abbey, und nach einem langen Mittag im Hyde Park beschließen sie weiterzureisen.
Nachdem sie in Edinburgh von der Burg mit der Kapelle Saint Margaret auf das Schachbrettmuster der Neustadt hinabgesehen haben, träumt Laura von anderen Spielregeln, die nur Türmen erlauben, die Königin zu schlagen. Sie fahren weiter nach Norden in die schottischen Highlands. Laura saugt die Landschaft in sich auf, die ihm immer zu weit entfernt liegt. Frank ist kein Mann für lange Strecken. Er taugt nicht für Schottlands Norden, wo der ständige Wind seine kräftigen Hände gerbt und ihm durch die Haare und unter seinen Mantel fährt, bis er zerrupft hinter ihr steht und zu lachen vergißt, wenn sie ihre Hände nach ihm ausstreckt. Da kann sie noch lachen, selbst über ihn.
„Du hast viel zu lange gewartet“, sagt Eva. „Damals hättest du ihm endlich den Laufpaß geben sollen.“
„Vermutlich“, murmelt Laura und läßt die letzten Tropfen Wein auf ihre Zunge rinnen.
„Wenn ich es dir doch sage“, bekräftigt Eva und geht eine neue Flasche holen.
Sie versuchen es mit den Brücken von Limoges und den Grotten auf Capri, aber sie sieht selber, daß Frank nicht hierher gehört. Er ist ein Mann für Hauptstädte.
Nach Venedig wäre Laura gerne noch mit ihm gefahren, doch kurz vorher überrascht sie der Winter und ein Anruf von Franks Frau, die seine Geschäftsreisen nicht länger toleriert. Frank braucht nur Minuten, um alles aus Lauras Wohnung mitzunehmen, was ihm wichtig erscheint. Reiseandenken gehören nicht dazu. Da lacht sie nicht mehr, auch wenn sie sich später nicht mehr sicher ist, ob ihr das Lachen nicht schon früher vergangen ist.
„Du mußt ihn vergessen“, sagt Eva und gießt ihrer Freundin Wein nach.
„Vergessen“, nickt Laura.
Und denkt an Frank, aber auch an Venedig, denn wenn diese Stadt ist wie Frank, ist sie sicher einen Besuch wert.
(c) 2003 by Andrea Tillmanns