Alle gehen fort - Wendy Guerra

  • Verlag: Lateinamerika
    290 Seiten


    Originaltitel: Todos se van
    Aus dem Spanischen von Peter Tremp


    Kurzbeschreibung:
    Eine Jugend im revolutionären Kuba Schon als Mädchen vertraut Nieve ihrem Tagebuch an, was sie niemandem zu erzählen wagt. Sie wächst mit ihrer schrägen Hippie-Mutter und deren schwedischem Freund in Cienfuegos auf. Das unbeschwerte Leben findet ein jähes Ende, als das Sorgerecht ihrem gewalttätigen, alkoholkranken Vater zugesprochen wird und Nieve zu ihm in die Berge ziehen muss. Es beginnt eine Zeit der Demütigungen, des Hungers und der Schläge. Sieben Jahre später ist das Tagebuch noch immer Nieves bester Freund und ihr bestgehütetes Geheimnis. Sie ist mit ihrer Mutter nach Havanna gezogen, und ihr Haus wird zum Treffpunkt von Intellektuellen und Künstlern. Hier werden die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse der achtziger Jahre diskutiert, wie die ersten großen Flüchtlingswellen oder der Zustand der Revolution. Nieve studiert Malerei; sie sucht nach ihrem künstlerischen Ausdruck und nach ihrem Platz im Leben. Um sie herum wollen alle nur eines: weg von der Insel. Als Erster geht der Vater, dann der Schwede, aber auch Freunde und Bekannte, Nieves erste Liebe. Die einen flüchten, andere können aufgrund von Privilegien frei ein- und ausreisen. »Nur sie allein« bleibt auf der Insel zurück. Mit einer unkindlichen Distanz berichtet Nieve in einer knappen, aber umso eindringlicheren Sprache von familiärer und sozialer Gewalt. Ein undogmatischer, schonungsloser Blick in den kubanischen Alltag der 70er und 80er Jahre.


    Über die Autorin:
    Wendy Guerra (*1970) studierte am Instituto Superior de Arte (ISA) in Havanna Film-, Radio- und Fernsehwissenschaften. Sie ist in Kuba auch als TV-Moderatorin, Schauspielerin und Lyrikerin bekannt. Für Todos se van, ihren ersten Roman, erhielt sie 2006 den Premio de la Novela Bruguera. Der Juror Eduardo Mendoza lobte die »Authentizität und die Ehrlichkeit« des Buches, das eine »lehrreiche und bereichernde Reise« sei. Wendy Guerra lebt und arbeitet in Havanna.


    Mein Eindruck:
    Dieser intensiv zu lesende Roman besteht aus zwei Teilen. Den Jahren der Kindheit und die Jahre der Jugend. Es beginnt in den späten 70iger Jahren. Nieve ist ein Mädchen von ca. 10 Jahren in Kuba. Ihre Mutter ist unangepasst und nicht sehr lebenstüchtig. Deswegen wird Nieve zu ihren gewalttätigen Vater gegeben, der ein Alkoholiker ist. Bei ihm macht sie schlimmes durch: Isolation, Essensentzug und brutale Schläge.


    Das komplette Buch besteht aus den Eintragungen Nieves in ihre Tagebücher, das bewirkt eine große Nähe des Lesers zu ihr. Da sie von ihrem Vater nur selten in die Schule gelassen wird, ist sie eine schlechte Schülerin, dabei sind ihre Beobachtungen, die sie aufschreibt, intelligent und scharfsichtig. Dabei vollkommen illusionslos. Streckenweise ist das Buch für den Leser schwer zu ertragen, bis Nieve es endlich aus eigener Kraft schafft, sich zu befreien. Nieve hat als Figur meinen größten Respekt. Sie hat viel durchgemacht, aber nicht resigniert.


    Das leitet in den zweiten Teil des Buches ein, der einen anderen Ton aufbietet. Nieveswächst auf, verliebt sich. Es gibt aber weiterhin immer wieder Abschiede von den Menschen, die sie liebt. Wer kann, verlässt Kuba, Nieve bekommt diese Chance nicht. Ihr Leben als junge Erwachsene besteht aus Kunst und klare Wahrnehmung. Der Stil wird immer lyrischer, es sind auch zahlreiche Gedichte im Buch eingebunden. Die Autorin Wendy Guerra ist eine begabte Lyrikerin.


    Ein lesenswertes Buch, das viel über das Leben in Kuba erzählt und in einer guten Gestaltung vom Lateinamerika-Verlag herausgegeben wurde. Es gibt Anmerkungen des Übersetzers und eine lesefreundliche Seitenaufteilung mit vielen kurzen Kapiteln. Ich gebe dem Buch 10 Punkte und hoffe, dass es bald weitere Übersetzungen von Wendy Guerras Büchern geben wird.

  • "Nieve" bedeutet "Schnee", und genauso wenig wie Schnee in die Karibik passt das Mädchen Nieve ins Kuba der 1970er und 1980er Jahre. Ihre Mutter ist Künstlerin und Radiomoderatorin, unangepasst, ein bisschen hippiemäßig, Freunde und Künstlerkollegen gehen ein und aus. Dieses Umfeld, die vielen Umzüge und die schlimmen Erlebnisse als Kind, die im ersten Teil des Buches als "Tagebuch der Kindheit" verarbeitet sind, lassen Nieve zu einer jungen Frau heranwachsen, die meist außerhalb steht. Die einzige Konstante in Nieves Leben ist ihr Tagebuch, und im zweiten Teil, dem "Tagebuch der Jugend", notiert sie (Zitat S. 132): "Es ist die Zeit des kalten Krieges, des Krieges jugendlichen Schweigens. Wenn du nicht Teil der Gruppe bist, hast du keinen Freund … du wirst zu jemandem, der nicht zählt … Sie können es nicht ertragen, dass du deine eigene Welt hast, und ich ertrage es nicht, dass sie mich zurückweisen."


    Nieve wächst in einer Welt heran, in der man aufpassen muss, was man sagt, mit wem man spricht, welche Bücher man liest, welche Konzerte man besucht, welche Gemälde man betrachtet, mit wem man befreundet ist, und ihre Mutter und damit auch Nieve haben Zugang zu vielen Dingen, die verboten sind. Das Mädchen hat oft das Gefühl, die Mutter beschützen zu müssen. Über alldem steht der Wunsch, das Land zu verlassen, so, wie es jeder tut, der die Möglichkeit dazu bekommt. Doch Nieve kann nicht gehen, dazu braucht sie die Einwilligung ihres Vaters - aber der ist nach Miami gegangen. Nach und nach leert streicht sie immer mehr Telefonnummern von Bekannten aus ihrem Notizbuch. Alle gehen fort, auch Nieves erster Freund, ein Maler. Er geht nach Paris, Nieve soll nachkommen, doch er vergisst sie im Laufe der Zeit. Sie ist unglücklich und orientierungslos, nur das Tagebuch bleibt. Nieve lässt sich treiben.


    Mit zwanzig verliebt sie sich in Antonio. Er liest das Tagebuch und versucht ihr zu erklären, dass sie ein Teil der Welt ist und setzt ihre Jugendzeit in Bezug zum Weltgeschehen. In der Sowjetunion ist Perestroika, in Deutschland fällt die Mauer - was bedeutet das für Kuba? Sie kann ihn nicht mehr fragen, auch Antonio geht fort, wenn auch anders als die vielen anderen. Nieve harrt aus.


    Der wohl stark autobiographisch geprägte Tagebuchroman (an einer Stelle nennt sich die Erzählerin Nieve Guerra) erzählt hautnah und im Ton trotzdem distanziert über das Leben in Kuba. Ich habe mich darüber gewundert, dass ein solches Buch entstehen konnte, denn die Autorin lebt und arbeitet in Havanna und beschreibt sehr kritisch, wie die Politik immer wieder Einfluss auf das Privatleben nimmt. Das Buch erschien in Spanien; ich habe nichts darüber gefunden, dass es auch in Kuba erhältlich ist. Beim Tagebuch der Kindheit war ich gespannt, ob Nieve es schafft, sich aus dem gewalttätigen Umfeld zu befreien; das Tagebuch der Jugend hat mich auf eine andere Art, die ich gar nicht genau beschreiben kann, in den Bann gezogen. Nieve scheint meist in melancholischer Stimmung zu sein, vieles nimmt sie einfach hin. Kann oder will sie keine eigenen Entscheidungen treffen? Ich habe immer darauf gewartet, dass sie sich irgendwie befreit. Insofern passt für mich der Schluss:



    Ich habe das Buch gern gelesen und ich denke, dass ich irgendwann beim Wiederlesen noch interessante Details entdecken werde.