Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes - George Simenon

  • Hier also Maigrets fünfter Fall und Drapers fünftes Selbstgespräch zum Thema Maigret Gesamtausgabe :grin


    In diesem Fall wird schnell klar, dass Maigret sich hier noch weit stinkstiefeliger gebärdet, als man es bisher gewohnt war. Was nicht weiter verwundert, treibt er doch diesmal seine intuitiven Alleingänge auf die Spitze: plötzliche Zweifel veranlassen ihn, einen zum Tode verurteilten Mörder, Heurtin, den er gar selbst hinter Gitter gebracht hat, zur Flucht aus der Todeszelle zu verhelfen. Dummerweise gerät die Aktion aus dem Ruder, der Verdächtige führt Maigret nicht zu dem wahren Mörder, sondern verschwindet, einen verletzten Inspektor Dufour zurücklassend, zwischenzeitlich von der Bildfläche.
    Also muss Maigret sich erst einmal wieder um den Doppelmord an sich kümmern: eine reiche amerikanische Witwe und ihre Zofe wurden in ihrer Villa erstochen, doch nichts wurde gestohlen. Alle Spuren weisen auf Heurtin hin, einen armen Schlucker, der beharrlich schweigt und keinerlei Motiv besitzt, weshalb Maigret mal wieder gegen die Verlautbarungen seiner Chefs auf eigene Faust loslegt.


    In diesem Buch lässt Simenon mal wieder Welten aufeinander prallen. Diesmal ist es die des Pariser Lumpenproletariats mit der der Schönen, Reichen, die den Nachmittag beim Thé dansant verbringen, um abends bei Wohltätigkeitsveranstaltungen ein paar Brosamen ihres Kuchens nach unten zu verteilen. Schon nach der Hälfte des Buches ist offensichtlich, wer hier der Böse ist. Maigret weiß das auch, und weil der Böse weiß, dass Maigret das weiß, entwickelt sich ein Machtspielchen, das Maigret nur dank seines Stoizismus und seiner Hartnäckigkeit gewinnen kann.


    Für mich nimmt mit diesem Band die Maigret-Reihe die Konturen eines (post)modernen Kriminalromans an. Simenon spielt zwar noch mit den Motiven von Locked-Room-Mysteries und die Deutungshoheit des Graphologen erinnert an Sherlock Holmes, doch ist die Geschichte schon irgendwie geplottet, die Aufklärungen des Falles ergibt sich nicht mehr aus der scheinbar ziellosen Interaktion der Antipoden, sondern von Anfang ist die Lösung des Falles „vorbereitet“. Dadurch geht zwar ein wenig des Charmes der ersten Bände verloren, dafür dürfte er den Lesegewohnheiten heutiger Leser mehr entgegenkommen. Und Simenons Gabe, mit knappen, aber eindringlichen Sätzen ganze Milieus erstehen zu lassen, geht in diesem Buch keineswegs verloren.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)