Das Karussell
Ein weiter Weg zurück liegt hinter mir und eigentlich wollte ich nur noch ins Hotel und schlafen. Aber die Geräusche und die Neugier bringen mich zurück in die Straßen. Es gibt jetzt eine Fußgängerzone – vor 25 Jahren fuhren hier die Autos. Alles neue Gebäude, neue Geschäfte. Wo sind die alteingesessen Betriebe hin? Hatte auch hier die Pleite – der Verlust von Arbeitsplätzen – nicht halt gemacht? Was hatte ich erwartet, dass die Zeit stehen geblieben war. Einfach so. Meine Schritte lenkten mich auf den Marktplatz. Ja, das Rathaus, etwas strahlender, aber ich erkannte es. Sogar angestrahlt wird es jetzt. Hier fand ich doch das ein oder andere bekannte wieder. Geschäfte die mich schon als Kind gelockt hatten, aber das Geld war immer knapp.
Heute wollte ich noch nicht auf den Jahrmarkt gehen, aber meine Schritte lenkten mich direkt dorthin. An der Seite ein großes Karussell. Mein Herz klopfte, es wollte hinausspringen. Ich stand da und spürte nichts um mich herum. Als ich wieder zu mir kam schauten mich die Menschen merkwürdig an. Jemand bot mir auch Hilfe an, die ich ablehnte. Es ging mir gut für die besorgten Menschen, aber wirklich gut ging es mir nicht. Noch überlegte ich. Hotel oder doch das Karussell. Die Entscheidung muss schon vorher gefallen sein, denn die Schritte gingen zum Karussell – der Schlickerbahn. Aber sie war es nicht. Die Musik der heutigen Popszene angepasst, junge Menschen die vor dem Karussell standen, im Takt der Musik sich bewegend, ein Kassiererhäuschen und zwei gutaussehende Burschen, welche die Fahrchips entgegennahmen. Immer lächelnd, etwas südländisch, etwas verwegen, zu allem bereit. Das kam mir so bekannt vor. Aber es war nicht mehr die Schlickerbahn mit den Schiffchenschaukeln. Jetzt hieß es „der Trabant“ und ich hatte den Eindruck die Fahrt würde viel schneller gehen als damals. Die jungen Menschen in den Waggons johlten noch genau so wie wir damals. Meine Schritte lenkten mich sicher in das Innere des Karussells. Gab es dort auch die Bretter, das Geländer um dort zu stehen? Rauchen, knutschen, Händchen halten war damals angesagt und heute? Ich musste es wissen und stieg langsam hinauf in das Zentrum. Die jungen Leute musterten mich merkwürdig, wahrscheinlich hielten sie mich für eine besorgte Mutter, die nach ihrer Tochter sucht. Das suchte ich bestimmt nicht, aber eine Suche war es schon. Die Suche nach der Wahrheit, nach der Vergangenheit vor 25 Jahren. Der hintere Teil – es gab ihn, er war dunkel und ich sah auch die jungen Menschen. Wie wir damals. Plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Du musst hier weg hörte ich meine innere Stimme. Jetzt! Gleich! Fast rannte ich hinaus aus dem Karussell, lief von dem Jahrmarkt fort in mein Hotel. Wieder eine Flucht.
Es war eine unruhige Nacht. Solche Nächte kannte ich. Sie kamen immer wieder, ich konnte es nicht abstellen, nicht unterbinden, plötzlich war es da. Leider blieb mir am nächsten morgen kaum Erinnerung meiner Träume, dafür aber das Gefühl nicht ausgeruht zu sein. Auf die Beine brachte mich eine lange Dusche und das gute Frühstück im Hotel. Dann stieg ich in mein Auto und fuhr an die Ostsee. Noch waren keine Touristen zu sehen. Im Frühjahr kann man den Strand fast allein für sich nutzen und davon machte ich heute Gebrauch. Fast 3 Stunden lief ich direkt an den strandenden Wellen vorbei, bis zum Weißenhäuser Schloss. Dort kehrte ich ein und genoss eine heiße Schokolade. Den Nachmittag verbrachte ich in Heiligenhafen und Großenbrode. Alte Orte meiner Kindheit wollte ich wiedersehen. Aber war das auch der Sinn dieser Reise?
Im Internet fand ich einen Hinweis aus meiner Heimatstadt Oldenburg. Frühjahr-Jahrmarkt sprang mir das Wort entgegen. Schon 3 Tage später machte ich mich auf die Reise. Mit der Bahn bis Hamburg, dann einen Leihwagen und plötzlich war ich Zuhause. Nein, nicht wirklich zu Hause, nach 25 Jahren kommt man zurück in die Kindheit und Jugendzeit. Mein Zuhause hatte ich schon lange in Nürnberg gefunden. War es wirklich 25 Jahre her? Ich rechnete noch einmal nach. Ja, damals war ich 15 Jahre. Jung, unbeschwert, das erste Mal verliebt und hätte die ganze Welt umarmen können. Zwei dicke Tränen rollen mir bei dieser Erinnerung über die Wangen. Damals, ja da waren so viele Träume.
Am Abend gehe ich erneut auf den Jahrmarkt. Nichts anderes als das Karussell interessiert mich dort, obwohl es überall gut duftet. Frische Mutzen und Krapfen, gebrannte Mandeln, Bratwurst und Schaschlik locken. Aber ich verspüre keinen Hunger, möchte jetzt und hier die Erinnerung wachrufen. Oftmals werde ich leicht angerempelt, es ist voll vor dem Karussell. Aber ich spüre es nicht wirklich. Vor meinen Augen verändert sich das Karussell….
Samstagabend, 21.00 Uhr im März und ich darf noch auf dem Jahrmarkt bleiben. Nach langem bitten und betteln bei meinen Eltern ist es mir gelungen eine Ausgeherlaubnis bis 23.00 Uhr zu bekommen. Mein Herz hüpft und springt vor Freude. An der Schlickerbahn ist es voll. Die Gondeln sind bei jeder Fahrt besetzt und einige verschaffen sich ihr Recht auf eine Gondel durch unsanftes stoßen. Immer wieder müssen die Aufsichten eingreifen, auch Carlo. 18 Jahre alt, dunkel vom Typ her und schwarze, längere Haare. Immer wieder gleiten seine Augen zu mir und meine blitzen freudestrahlend zu ihm. Seit 2 Jahren hilft er seinem Onkel beim Fahrgeschäft. Das ist jetzt ein ruhiger Job, aber während dem Auf- und Abbau ganz schön anstrengend. Meine Freundin Anna steht neben mir, auch sie hat heute längeren Ausgang. Wir sind ausgelassen, die Musik turnt uns an und Carlo kommt immer wieder zu uns herüber und schäkert mit uns, was uns auch viel Neid der anderen Mädchen einbringt. Anna hat bislang noch nicht mitbekommen, dass zwischen mir und Carlo mehr ist. Ich bin zum ersten Mal verliebt und gehe auf rosaroten Wolken. Erwachsen, ja ich glaube jetzt bin ich erwachsen und sehne mich schon nach der nächsten Umarmung von Carlo. Im hinteren Teil des Karussells wird es immer voller. Carlo spendiert uns mehrere Freifahrten und wir sind begeistert. Wir fahren sogar im stehen, grölen die Songs mit und die Leute schauen uns an. Gegen 22.00 Uhr wird es ruhiger und Carlo stellt sich wieder zu uns. Jetzt spüre ich seine Arme und dann seine Lippen. Sie sind warm, weich und zart. Seine Hände tasten unter meiner Jacke und ich lege mich noch tiefer in seine Arme, aber da ist Anne… sie ist plötzlich vollkommen aus dem Häuschen, greift mich an und ich verliere fast den Halt. Worte wie Schlampe, miese Kuh knallen mir entgegen. Sie startet einen weiteren Stoß in meine Richtung, ich weiche aus und treffe dabei auf ein anderes Paar. Carlo versucht sie abzufangen, aber sie kommt mit so viel Wucht, dass sie zurückprallt und… sie stürzt in das Karussell. Schreie, Schreie, Panik… irgendwo bricht meine Erinnerung ein an diese Sekunden, die Minuten. Ein so wunderschöner Abend endet in einer einzigen Katastrophe. – Die folgenden Tage erlebe ich wie in einem Traum. Mein Bewusstsein hat gespeichert was passiert ist, aber das Begreifen hat noch nicht eingesetzt. Fast 2 Monate dauern die Untersuchungen. Das Unglück hat auch die Menschen im Ort schockiert. Das Endergebnis: Tod durch Unfall steht in der Polizeiakte…
Zurück in die Wirklichkeit komme ich nur langsam. Die Geräusche und Ansichten verschwinden und ich sehe auf das Karussell „der Trabant“. Die Musik der Neuzeit holt mich ein und Menschen die mich anschauen. Tränen rennen über meine Wangen um die wette. Mein Blick ist verschleiert. Dann greift eine Hand nach mir und zieht mich mit sich. Ich begreife nicht, warum ich einem Fremden einfach folge. Tapsig wie ein Bär gehe ich mit ihm in eine Grillstube mit Bänken und Stühlen. Der Fremde gibt mir ein Taschentuch und trinken. Dankbar schaue ich ihn an. Wer ist das? Mein Gehirn, dass bislang nur mit halber Kraft läuft, sucht in allen Ecken nach diesem Fremden, nach seinem Gesicht, aber da ist nichts. Dann dringt seine Stimme zu mir durch. Caren, kennst Du mich nicht mehr? Mein völlig verständnisloser Blick muss ihn veranlasst haben, gleich weiter zu sprechen. Jürgen, der Bruder von Anne. Meine Augen werden groß und ich kann mich noch immer nicht an ihn erinnern, aber an den Namen. Caren, es war ein Unfall. Anne starb durch einen Unfall den niemand wollte. Obwohl ich von Gesprächen mit Männern im allgemeinen und besondern, wenn es um Gefühle und Tränen geht nicht viel halte, musste ich doch feststellen, dass ich in Jürgen einen wunderbaren Gesprächspartner gefunden hatte, mit dem ich das damals und heute in Einklang bringen konnte.
Meine Abreise verschob ich noch um einen Tag. Jürgen wollte mir viel Neues aus meiner alten Heimat zeigen. Und das war auch gut so. Die Vergangenheit holt einen irgendwann ein..
Carlo und die Schlickerbahn habe ich nie wieder gesehen. Obwohl ich es mir oft gewünscht hätte.
End
copyright by Caren Löwner Nov. 2003