Und morgen war Krieg - Boris Wassiljew

  • OT: Zawtra bila wojna 1984, übers. von Margit Bräuer


    Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, sie sind in der vorletzten Klasse vor dem Abitur, 17, 18 Jahre alt. Die meisten von ihnen kennen sich, seit sie auf der Oberschule sind, sie feiern Partys, streiten sich, brüten Streiche aus, verlieben sich. Sie erkunden die Welt, probieren ihre Kräfte aus, setzen sich gegen Autoritäten zur Wehr, diskutieren über ‚die’ Wahrheit und den Sinn des Lebens. Sie haben Zukunftspläne, wilde, einfache, verrückte, romantische, vernünftige. Sie sind ganz normale Teenager, aber sie leben in einer besonderen Zeit, 1940 in der Sowjetunion.
    Eltern und LehrerInnen sind geprägt von der Zeit des Bürgerkriegs, der sozialen Umwälzungen und des Stalinismus. Die Jugendlichen sind überzeugt davon, daß sie in einer neuen Welt leben, voller Hoffnungen auf eine immer bessere Zukunft. Wassiljew stellt das Porträt einer Generation vor.


    Der Autor, 1924 in Smolensk geboren, schreibt seit den späten 1940er Jahren. In diesem kleinen Roman erzählt er als Ich-Erzähler unter dem eigenen Vornamen von, ‚seiner’ Klasse. Seine Figuren sind lebendige und überzeugend handelnde Personen, die zugleich für bestimmte Einstellungen und politische Überzeugungen stehen. Das Exemplarische und die Romanhandlung stützen sich dabei gegenseitig und sind auf so geschickte Art miteinander verflochten, daß man als Leserin mit den Personen mitlebt, dabei aber immer Distanz zum Nachdenken haben kann, die ideale Position.


    Die Geschichte beginnt harmlos, mit einem kleinen, sehr humorvoll geschilderten Streit unter Freundinnen, und wächst in kürzester Zeit zu einer breiten Diskussion über die Lebensentwürfe zweier Generationen. Die Jugendlichen müssen Familienprobleme ebenso bewältigen wie Schulprobleme und Konflikte mit dem stalinistischen Apparat. Die Älteren müssen mit der Erinnerung an den Bürgerkrieg und ihren eigenen, nicht selten falschen oder sogar unmenschlichen Entscheidungen fertigwerden, die die Gesellschaft zu derjenigen gemacht hat, in der sie jetzt leben. Brüche, Konflikte, Widersprüche sind allgegenwärtig, sie sind eine ständige Herausforderung. Für einige der Jugendlichen sind sie die eigentliche Energiequelle, andere verhalten sich zurückhaltend-vorsichtig, eine wird ihr Opfer. Wassiljews Mitgefühl und sein Verständnis für Menschen sind aber so umfassend, daß er selbst in dem tragischen Scheitern Größe und Respekt erkennen lassen kann, die ihre Auswirkungen dann auch auf alle Beteiligten haben.


    Seine Position ist der eines Befürworters von Reformen und Veränderungen, Irrtümer eingeschlossen. Seine positiven Figuren sind mutig, wehren sich gegen Vorverurteilungen und Vorurteile. Freiheit ist Gegenstand einer durchgängigen Diskussion, in der auch mit harten Bandagen gekämpft wird. Durchgängig ist die Abwehr von dem Beharren auf starren Prinzipien, auf dem Ausnutzen von Machtpositionen und dem Ausüben blinder Macht. Der kleine Roman wirft Schlaglichter auch auf die eigene Entstehungszeit, nicht nur auf die Sowjetunion 1940, und kann durchaus als Indikator für die innenpolitischen Veränderungen ab den 1980er Jahren gelesen werden.


    Der eigentliche Blick aber gilt den jungen Menschen von damals. Sie überwinden die Krisen, angeschlagen von ihrem ersten Kampf, siegreich, ein bißchen erwachsener, ein wenig erfahrener und auch mutiger. Doch das nützt ihnen nur kurze Zeit, ein halbes Jahr später überfällt Nazi-Deutschland die Sowjetunion. Die meisten aus der Klasse werden den Krieg nicht überleben. Im Epilog schildert Wassiljew, kurz, grausam, was mit jeder und jedem von ihnen geschah.


    Was von diesem Buch bleibt, ist die Erinnerung an ganz eigene Persönlichkeiten, an eine besondere Epoche. Eigenartigerweise bleibt auch ein hoffnungsvoller Ton, obwohl die Hoffnungen zerstört wurden.
    Das Buch erschien 1987 in deutscher Übersetzung in der DDR, verschwand aber auch nicht genau rekonstruierbaren Gründen fast umgehend wieder vom Markt. Im Westen erschien es nie, ein echter Verlust.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • So, das Buch wurde dann mal antiquarisch bestellt. Bin sehr gespannt. Herzlichen Dank, liebe Magali, für diese sehr eindrucksvolle Rezi. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Na, wenn Ihr meint. Ich finde immer noch, daß ich nichts Richtiges über dieses Buch schreiben kann. Lange genug hat es ja ohnehin gedauert.


    Aber danke für die Zustimmung.



    Der Roman wurde 1986 von Juri Kara auch gleich verfilmt. Es ist ein guter Film geworden, für mich aber besitzt er nicht die Intensität des Buchs. Dennoch ist er auch empfehlenswert.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus