Maria mit der Wermutspflanze - Wladimir Jaworiwski

  • Wladimir Jaworiwski
    Maria mit der Wermutspflanze - Roman um die Havarie von Tschernobyl
    Verlag der Nation Berlin 1990
    ISBN: 3373003652


    Der alte Iwan ist gestorben, im April 1986, und seine Kinder sind ins Dorf bei Tschernobyl zurückgekehrt, um ihn zu beerdigen. Neun Tage später wollen sie sich noch einmal zum Gedenktag treffen: Alexander, Atomphysiker in Moskau und Konstrukteur des Tschernobylreaktors, der Schwerenöter Griz und der depressive Mikola, beide Angestellte des Atomkraftwerks, die unglücklich verheiratete Odarka und der jüngste Sohn, der taubstumme Fjodor, der noch im Dorf bei seiner Mutter Maria lebt.
    Doch dazu kommt es nicht, die Reaktorkatastrophe zerstört das Leben der Menschen, und trifft jeden einzelnen auf verschiedene tragische Weise


    Dies ist ein sehr russischer Roman, finster, tragisch, hoffnungslos, eigentlich kein Buch, wie man es an einem strahlend schönen Sonntag lesen möchte. Doch auch wenn die Lektüre alles, aber keinen Spaß bereitet, ist das ein sehr hilfreiches Buch, das auf beeindruckende Weise zeigt, auf welch tönernen Füßen unser kleines Alltagsglück ruht. Hier ist es der manchmal etwas mühsame spätsowjetsiche Alltag in einer schönen, neuen Stadt, die Technikgläubigkeit und der Stolz auf den „brodelnden Reaktor, der seit Jahren schnurrt wie eine Katze“ und das kleine aussterbende Dorf mit den dörflich Genüssen, frisch gemolkener Milch, getrockneten Tomaten und selbstgebranntem Wodka: all das ist durch einen kleinen Fehler verloren, der die Menschen, die doch alles unter Kontrolle zu haben glaubten, hilflos, sprachlos, fassungslos zurück lässt, wie etwa den Brigadier, der die Evakuierung der Dörfer rund um Tschernobyl organisieren soll: „Panikmacher werden bestraft! 200 Rubel für Panik!“


    Rein literarisch betrachtet, ist dieser Roman sicherlich kein großartiges Buch, viele Bilder wiederholen sich, nicht alle Charaktere sind gründlich ausgearbeitet, der eine oder andere Stereotyp mogelt sich in die Geschichte. Aber dennoch traf mich dieses Buch mit einer Wucht, wie ich es selten erlebt habe. Die Brocken direkter Rede, die einem an vielen Stellen hingeworfen werden, sind oft verwirrend, so verwirrend, wie die Katastrophe für die Protagonisten ist. Dann folgen wieder Passagen, die einen ob des Ausmaßes des Verlustes, und das ist nur sehr untergeordnet ein rein materieller Verlust, schwermütig werden lassen. Und es sind kleine, scheinbar unbedeutende Szenen, wie etwa der schon schwer verstrahlte Schäferhund, der verzweifelt hinter den Evakuierungsbussen herrennt, die sich im Kopf einbrennen.


    Manch einer mag sagen, dass er so was nicht lesen wolle, aber vielleicht wäre die Welt gerade heute ein klein wenig anders, wenn viele Menschen dieses Buch gelesen hätten.


    Edit: da der link zu amazon nicht funzt, habe ich die biibliografischen Angaben oben ergänzt

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

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  • Danke.
    Das habe ich mir inzwischen auch bestellt.
    Wenn Du das Buch zuerst gelesen hast, wird Dir Tschernobyl Baby von Hilbk sehr abgepuffert vorkommen. Gestylt geradezu.
    Es sind eben 25 Jahre vergangen.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • OT: Marija zo polynom naprykinci stolittja 1988. Russ. Titel: Marija s polyn’ju v konce stolet’ja. Aus dem Russ. übers. von Thea Marianne Bobrowski, 1989


    Bücher über aktuelle Schreckensereignisse sind eine heikle Angelegenheit, das gilt für Sachbücher ebenso, wie für Romane. Der Abstand fehlt, zur Betrachtung, Reflexion, zum Finden der Worte, die ‚richtig’ sind für eine Wiedergabe. Dementsprechend sind solche Bücher oft genug oberflächlich, emotional, plakativ und in ihrem Anspruch so schlicht, daß sie ebenso schnell vergessen, wie man die Seiten umblättert.
    Manchmal jedoch gibt es Autorinnen und Autoren, denen es gelingt, noch unter dem Eindruck des Entesetzens über das Ganze hinauszusehen und mit ihrer Darstellung tatsächlich die Stimmung des Augenblicks einzufangen und auf eine Art wiederzugeben, die ihr Buch zu etwas Bleibendem macht. Der vorliegende kleine Roman gehört zu diesen seltenen Exemplaren.


    Der Autor, 1942 in der Ukraine geboren und als Sowjetbürger aufgewachsen, schöpft eben aus diesen beiden Quellen. Seine romanhafte Beschreibung der Reaktorexplosion von Tschernobyl in der Nacht vom 26. April 1986 hat als Hintergrund eine deutlich spürbare Zuneigung zur ländlich-dörflich geprägten Welt der Ukraine mit ihrer üppigen Schönheit, den ausgeprägten Traditionen und Eigenheiten und ihren BewohnerInnen, die das alles bewahren. Auf der andere Seite steht die Modernisierung des Landes, die sich zum Zeichen des Wahns vom immerwährenden technischen Fortschritt in weiten Teilen zum Nachteil gewandelt hat. Landflucht, wachsende Konsumsucht einer wohlhabend gewordenen privilegierten Schicht, ein starrer Beamtenapparat, der Sicherheit suggeriert, aber tatsächlich nur einschränkend wirkt, sind seine wesentlichen Komponenten.


    Die Familie, die Jaworiwski in all das hinein plaziert, steht beispielhaft für die verschiedenen Komponenten. Vorgestellt werden Vertreterinnen und Vertreter dreier Generationen, Maria und über sie ihr gerade verstorbener Mann Iwan, ihre Kinder und Schwiegerkinder und die Enkelinnen und Enkel. Es sind Typen, aber sie gewinen nach wenigen Sätzen schon ein beträchtliches Eigenleben. In den Beschreibungen ihres Lebens und Interagierens in den wenigen Tagen im April, in denen es auf den ersten Blick um Familienstreitigkeiten, Geschwisterkämpfe, Eheprobleme und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern geht, ist zugleich wie im Zeitraffer die Entwicklung der Sowjetunion seit dem Ende des zweiten Weltkrieges enthalten. Die ‚große’ Geschichte ist der Hintergrund der und zugleich der wesentliche Grund für die aktuellen Geschehnisse. Vergangenheit und Gegenwart gehören unauflöslich zusammen. Die Figuren beziehen ihrerseits ihr Selbstverständnis aus den bisherigen Entwicklungen, im Guten wie Schlechten. Geschichte geschieht eben nicht einfach, sondern ist das Ergebnis vom Handeln von Menschen. Hier findet der Autor eben den Anknüpfungspunkt zu den Ereignissen der Nacht vom 25. auf den 26. April in Block 4 des Kraftwerks von Tschernobyl.


    Wie es zur Explosion kommt, ist in sich äußerst spannend geschildert, sowohl der Ablauf im Kraftwerk als auch die Interpretation des Autors von den Umständen, die außerhalb des Kraftwerks dazu beigetragen haben. Das Vorwissen der Leserinnen und Leser fügt der Geschichte dann das letzte Quentchen Tragik dazu, man folgt dem Ganzen mit reinem Entsetzen, wie man den Untergang eines antiken Helden folgt, in all seiner grausamen Unausweichlichkeit.


    Jaworiwski gelingt es zudem, die zwischenmenschlichen Dramen, die er beschreibt, nicht angesichts des großen Dramas verschwinden zu lassen. Als Leserin ist man ebenso entsetzt und wütend über die Maßlosigkeit und das Unvermögen der gläubigen Technokraten, wie man wütend wird über den Alkoholismus, der bei vielen den Alltag prägte, die falsche Lebensgier, die Sinnlosigkeit der Ehen, der Männerollen und Frauenrollen. Abgesehen von der Kritik am Umgang mit der atomaren Energie, enthält der Roman ein gerüttelt Maß an Gesellschaftskritik und ist so rundum ein sehr unangenehmes Bild der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre. Daß die Geschichte bei den hochemotionalen Szenen nach der Explosion, etwa im Krankenhaus oder bei den ersten Evakuierungen, ein wenig verflacht, ist der Nähe zu den aktuellen Ereignissen geschuldet. Es vermindert Jaworiwskis Leistung aber nicht, man kann sich hier einfach vom der Emotionalität weitertragen lassen. Sie ist stark genug, auch wenn die Worte fast versagen.


    Sein Szenario am Ende ist dann wieder atemberaubend. Maria geht zurück in die verbotene Zone, um die verlorengegangene Kuh zu retten, Inbegriff ihres Verständnisses vom Wert des bäuerlichen Lebens, das ihre Identität bestimmte. Die Natur aber, Nahrungsgrundlage, Heimat, Vergangenheit und Daseinszweck, ist durch den Eingriff der Menschen zur tödlichen Feindin geworden. Mensch und Natur haben sich endgültig getrennt. Sie rettet die Kuh und bringt sie nach draußen, aber ihre Tat ist völlig sinnlos. Die Kinder, bis vor kurzem noch Garanten der Zukunft, weinen. Ein schauerlicher Schluß.


    Sehr vielschichtige und großartig gelungene literarische Auseinadersetzung mit der Reaktorexplosion von Tschernobyl.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Vielen Dank für die Rezi!


    Ich habe das Buch 1989 gelesen, als es in der DDR erschien. Damals machte ich gerade mein Abi, und wir haben alles verschlungen, was an kritischer Literatur aus der Sowjetunion zu uns herüberschwappen durfte.
    Seitdem hatte ich das Buch nicht mehr in der Hand, bis gerade eben. Danke für die Rezi und dass ich daran erinnert wurde.
    Obwohl es so lange her ist, dass ich den Roman gelesen habe, sind mir viele Eindrücke immer noch sehr präsent.
    Die Havarie von Tschernobyl war sehr abstrakt und nicht greifbar für mich, die ich ja damals noch ein Kind war, als es passierte. Der Roman von Jaworiwski hat das geändert, hat sie am Schicksal einer Frau, einer Familie, eines Dorfes erlebbar gemacht und mich damals sehr erschüttert. Der Autor stellt nicht nur den leichtsinnigen und leichtfertigen, ja zu selbstverständlichen Umgang mit der Technik an den Pranger, sondern scheint uns auch wachrütteln zu wollen, wie wir miteinander umgehen oder auch nicht mehr umgehen, wie Bindungen brechen und die Entfremdung um sich greift. Ein im Kontext mit seiner Entstehungszeit ungewöhnliches, außergewöhnliches Buch.


    Ich lege das Buch nun wieder obenauf und werde es unbedingt noch einmal lesen.
    Ich bin gespannt, wie das Buch 22 Jahre nach dem ersten Lesen auf mich wirken wird.

  • Mir fiel dieses Buch auch Anfang der 90er in die Hände, als die Buchläden hier im Osten ihren ganzen DDR-Bestand verhökert haben, und ich war damals schon, auf dieses Buch trifft dieser abgedroschene Begriff, erschüttert. Nun ja, da war ich zwanzig.


    Seltsamerweise hat mich das Buch jetzt, beim Wiederlesen, fast noch mehr mitgenommen. Es freut mich, Clare, dass du das Buch wieder ausgegraben hast, es lohnt sich. Ich bin gespannt auf deine Eindrücke.


    magali : ja, sowas in der Art wollte ich sagen :grin

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Hättest Du es nicht gesagt, wie Du es gesagt hast, hätte ich das Buch nicht umgehend geordert ;-)



    Clare


    fein, noch jemand, dies es kennt. Im Westen ist es, soweit ich sehe, nie erschienen.


    Mein Exemplar (aus dem Antiquariat) ist so gut erhalten, daß ich fürchte, daß es nie gelesen wurde.
    Okay, es kann natürlich sein, daß es auch in der DDR diese Freaks gegeben hat, die TBs lesen können, ohne einen Knick in den Rücken zu machen. :grin



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus