Merle Hilbk ist Journalistin. Sie wurde 1969 geboren, das Jahr ihrer Geburt als politisch interessierter und engagierter Mensch aber war für sie 1986. Der Tag: der 26. April. Das war der, an dem in der BRD zum erstenmal über den Reaktorunfall im sowjetischen Tschernobyl berichtet wurde.
Seitdem sind 25 Jahre vergangen, Zeit für das erste Jubiläum, gäbe es etwas zum Jubeln. was es ganz bestimmt nicht gibt. Zeit aber für einen Gedenktag und ein Erinnern an jenes Ereignis, das als Super-GAU in die Geschichte eingegangen ist.
Bereits 2008/2009 hat sich Hilbk aufgemacht, um selbst zu sehen, was aus Tschernobyl geworden ist. Nicht nur aus dem Ort, sondern aus allem, was damit zusammenhängt. Aus den Menschen, der Erinnerung, dem Umgang mit dem Unfall und seinen Folgen.
Fünfzehn Kapitel hat das Buch, im ersten begleiten wir die Autorin gleich in die Sperrzone. Die Atmosphäre ist gespenstisch und berückend zugleich, ein Gefühl, das sich während der gesamten Lektüre nicht verändert. Mit der Beschreibung der Zustands des Teils des Geländes, das besucht werden darf, werden auch die ersten grundlegenden Fakten mitgeliefert. Das Reaktorgelände und ein Teil des verstrahlten Gebiets liegen heute in der Ukraine, der größere Teil verstrahlten Landes in Belarus. Zwei Länder, die völlig unterschiedlich mit diesem Erbe umgehen. Die Folgen, das sei gleich gesagt, sind in beiden Fällen schrecklich.
Hilbk besucht die Sperrzonen von beiden Ländern aus. In Belarus, autokratisch und nach verbliebenen diktatorischen Versatzstücken der Sowjetunion regiert, nicht ganz legal, in der Ukraine, westlich orientiert, mit einem Reiseveranstalter, der sich eben darauf spezialisiert hat. Beklemmend sind nicht nur die Schilderungen der Geisterstädte, sondern mehr noch die deutlichen Spuren von Plünderungen. Tonnenweise wurde in den Jahren nach 1986 Baumaterial, Metall, Autos, Möbel, persönliche Gegenstände, aber auch Brennholz, Früchte und Gemüse, Fische und Wild aus den kontaminierten Zonen abtransportiert. Von den Besitzern, aus Armut, aus Gewinnsucht, unorganisiert und organisiert.
Schwer zu ertragen sind die Gespräche mit den Betroffenen. Hilfe gab es wenig, mit dem Ende der Sowjetunion verschwand auch das Wenige nach und nach. Die Folgen bewältigen müssen die Betroffenen allein, den Verlust der vertrauten Umgebung, des persönlichen Besitzes, der Arbeit, den Krankheiten. Erschreckend ist das Ausmaß an Verdrängung des Problems in der Öffentlichkeit wie privat. Es gab keine Auseinandersetzung, keine Verarbeitung, die Erinnerung wurde weggedrängt. In Belarus werden seit vielen Jahren mehr und mehr Gebiete, die zur Sperrzone gehörten, für wieder bewohnbar erklärt, es gibt sogar Pläne, Zuwanderer aus anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion systematisch dort anzusiedeln, obwohl die Geigezähler de facto immer noch kräftig ausschlagen.
Hilbk ergänzt ihre Reiseschilderungen mit Beschreibungen von Hilfsorganisationen, vor allem der für die Kinder von Tschernobyl, aber auch der westdeutschen Anti-AKW-Bewegung. Es geht ihr immer darum, ein Porträt einer ‚Generation’ zu zeigen, die sich mit dem Ereignis herausgebildet hat, gleich, wie alt diese Menschen zum Zeitpunkt des Unfalls waren. Das sind gut geschriebene, aber auch auf Publikumswirksamkeit berechnete, also stark an Emotionen appellierende Kapitel. Sie sind informativ, verlassen aber zuweilen die Ebene des Sachbuchs und werden zu einer sehr persönlichen Stellungnahme der Autorin.
Ähnlich verhält es sich mit der belarussischen Reisebegleiterin, Mascha genannt. Es gibt ganze Kapitel, in denen nur Mascha das Wort hat, ihre Meinung wird als innerer Monolog wiedergegeben. Das macht die Lektüre abwechslungsreich und gibt einen Einblick in das moderne Belarus. Zugleich aber vermitteln sie den Eindruck, daß ‚Mascha’ eine Kunstfigur ist, in der wohl die Aussagen mehrerer Personen zusammenfließen. Das hat seine Gründe zum einen darin, daß man sich in Belarus alles andere als frei bewegen kann, gerade ausländische Besucherinnen und Besucher werden überwacht. Zum zweiten wird die Information auf diese Weise verdichtet und das ist nicht schlecht bei diesem Buch, in dem Informationen mehr als reichlich fließen. Trotzdem bleibt das Verfahren angreifbar, weil es am Fundament der Verläßlichkeit der Informationen rüttelt, wenn sie als Gedankenstrom aus dem Kopf einer einzigen Figur wiedergegeben werden. Zum dritten gehört ‚Mascha’ zum Konzept des Buchs, sie soll 1986 geboren sein, ein ‚echtes’ Tschernobyl-Baby, und schließt Hilbks Idee einer besonderen Generation '86 ab.
Hilbks Reisebericht ist eine Schilderung von Tschernobyl heute, von der Lage in den Sperrzonen, von den Menschen, die unverändert unter den Folgen des Unfalls leiden, aber auch von den Folgen des Vergessens und Verdrängens. Es gibt Antworten, aber selten ohne auf die Fragen, die dahinterstehen, zu verweisen. Es ist ein Beleg für die Unberechenbarkeit und Unbeherrschbarkeit der Folgen eines Reaktorunfalls über viele Jahrzehnte, über viele Generationen. Evakuierungen, Räumungen, Sperrungen wirken im Nachhinein betrachtet wie Heftpflaster gegen Krebs.
Es ist zugleich ein äußerst persönlicher Bericht über das Leben in einer Welt nach einer solchen Katastrophe, es ist informativ und empathisch, realistisch und gestaltet zugleich, ansprechend, unterhaltsam, ohne auch nur einmal den eigentlichen Schrecken auszuweichen. Als Buch zu einem Gedenken an Tschernobyl nach einem Vierteljahrhundert hat es trotz einiger Einwände (den reißerischen Untertitel nicht zu vergessen) eine ganz besondere Bedeutung. Die Brisanz, die es jetzt durch die aktuelle Entwicklung bekommt, verleihen der Lektüre allerdings einen zusätzlichen Horror, den man sich lieber erspart hätte.
Ausgestattet ist der Text mit einer Handvoll Schwarz-Weiß-Fotos, die den Text auflockern, aber nicht sehr aussagekräftig sind. Der Vorsatz zeigt eine grobe Karte, mit dem entsprechenden Ausschnitt, Ukraine, Belarus und Russland (das gleichfalls verstrahlte Gebiete hat). Die Sperrzonen sind eingezeichnet, ebenso die Namen der größeren Ortschaften. Ungeschickt ist, daß die Angaben zur Radioaktivität in der Legende in Curie angegeben sind, seit 1985 gilt eigentlich die SI-Einheit Becquerel.