"Karte und Gebiet" von Michel Houellebecq erzählt die Geschichte des französischen Künstlers Jed Martin fast so wie eine literarische Künstlerbiographie. Jed geht durch mehrere Phasen, in der er zeichnet, malt und/oder fotografiert. Es wird seine Beziehung zu seinem Vater, einem erfolgreichen Architekten, beschrieben. Seine ersten größeren Erfolge hat er mit abfotografierten Landkarten, genauer Michelin-Karten. Wenig später geht er eine Liebesbeziehung mit einer Michelin-Managerin ein. Eine ungewöhnlich direkte Art von Kultur-Sponsoring. Überhaupt erfährt man viel über den Kulturbetrieb, vor allem der technischen und finanziellen Seite und der Roman ist bevölkert von real existierenden Menschen. Ein paar kennt man, andere nicht und so liest man sich parallel zu diesem Roman durch den einen oder anderen Wikipedia-Artikel.
Zitat
"Es überrascht mich ein bisschen", gestand Jed. "Als ich herkam, hatte ich damit gerechnet, dass sich unsere Begegnung --- nun, wie soll ich sagen --- etwas schwieriger gestalten würde. Sie stehen im Ruf, sehr depressiv zu sein. Ich habe zum Beispiel geglaubt, Sie würden viel mehr trinken."
Zitat Jed Martin als er Michel Houellebecq, den Autoren von Elementarteilchen, trifft, den er überreden will, ein Vorwort für einen Katalog seiner Werke zu schreiben.
"Karte und Gebiet" war auch mein erster "Wellbeck", wie man sagt, und ich war ebenso überrascht, hier offenbar auf Wellbeck-Light zu treffen. Immerhin habe ich schon viel von ihm gehört, erinnere mich an die Besprechung von Elementarteilchen im literarischen Quartett, der Verfilmung von Elementarteilchen und dem einen oder anderen Skandal. Depression und Menschenfeindlichkeit ist in Form der literarisierten Figur Michel Houellebecq zwar immer noch vorhanden, der Roman selber aber ist fast leicht und locker zu lesen. Über weite Strecken empfand ich es nicht als Nachteil, ihn vorher nie gelesen zu haben, es geht eh mehr um Oberflächen und Vorstellungen. Erst im letzten Drittel des Romans als Houellebecq selbstironisch böse Dinge mit seiner Figur anstellt (der Klappentext nimmt im Prinzip vorweg, was das genau bedeutet) hatte ich das Gefühl, dass man schon Fan sein muss, um das in der Breite interessant zu finden.
Der Stil ist größtenteils unprätentiös und ungekünstelt, fast spröde, aber ich war überrascht wie gut mir die ersten 60-70 Seiten gefallen haben. Danach gab es ein paar weniger interessante Stellen und meine Aufmerksamkeit ließ das eine oder andere Mal etwas nach, aber als die Figur Houellebecq auftaucht wird es dann wieder richtig gut. Wie angedeutet konnte mich das letzte Drittel dann aber nicht mehr so sehr überzeugen: das kriminalistische Element fand ich eher uninteressant und den Perspektivwechsel empfand ich als zu abrupt.
Die persönlichen Hintergründe, die die Figur Jed Martin ausmachen (insbesondere die erwähnte Beziehung zu seinem Vater) nehmen zwar viel Raum ein, aber insgesamt würde ich dreidimensionale Charakteriserungen und psychologische Tiefe nicht zu den Stärken des Buches zählen. Insbesondere die Nebenfiguren wirken oft wie Klone. Der Roman ist konzeptionell aufwendig und im Prinzip dienen die Figuren mehr diesen Konzepten als dass sie selbständig ein Eigenleben entwickeln würden.
Die Stärke des Roman ist für mich die Modernität. Er wirkt sehr zeitgenössisch im Sound und der Auswahl der Themen, fast wie Science Fiction, die die Welt vorweg nimmt, so wie sie in 10 Sekunden aussehen wird.
Es ist schwierig, dem Roman eine eindeutige Abschlussnote zu geben. Er hat sehr viele positive und originelle Elemente, die den Roman einerseits sehr stark machen, er hat aber auch weniger gelungene Passagen und ich weiß auch nicht, ob der Roman für mich als Gesamtkunstwerk 100%ig funktioniert. Das ist mir aber lieber als ein überdurchschnittlicher, handwerklich überzeugender, aber letztlich zu gefälliger Roman.