Stefan Kiesbyes Roman startet gleich mit einem Paukenschlag - Hemmersmoor in der Nähe von Bremen, ein heutzutage "typisches Dorf", in das die Städter ziehen um auf dem Land zu sein, ist der Schauplatz, an dem die Freunde Christian, Alex, Martin und Linde wieder zusammenkommen. Der Anlass ist jedoch eher traurig, handelt es sich doch um den Tod der gemeinsamen Freundin Anke. Die Situation eskaliert jedoch, und von üblen Beleidigungen bis zur Ignoranz und Grabschändung ist alles mit dabei.
Im weiteren Verlauf beschreibt Kiesbye dann, welche Drehungen und Wendungen die Leben der Freunde beeinflusst haben und welche Hintergründe zu der eingangs beschriebenen Situation geführt haben. Dies erfolgt aus unterschiedlichen Sicht- und Erzählweisen; mal stellt also Christian dar, wie seine Schwester und sein Vater zu Tode gekommen sind, dann erzählt wieder Linde, wie sie von Anke um ihren Ausweg aus dem Dorf gebracht wird.
Die einzelnen Textpassagen decken das Alter der Hauptpersonen von kurz vor der Einschulung in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis ca. 20 Jahre ab - oft ist dieser Sprung aber erst nach ein bis zwei Seiten wirklich klar. Dennoch wird meist der vom vorangegangenen "Erzähler" aufgeführte Hauptpunkt (z.B. der Tod einer Nachbarin) aufgenommen und die Geschehnisse weitergeführt. Dies macht also die Gesamtgeschichte gut nachvollziehbar und leicht lesbar.
Die gesamte Geschichte ist sehr sarkastisch geschrieben - man sollte also nicht besonders zartbesaitet sein sondern seine Freude an etwas derberen Kommentaren haben (wenn also eine Beerdigungsrede mit den Zitaten, die auf dem kostenlos erhältlichen Tankstellenkalender abgedruckt sind, verglichen wird, sollte man nicht pikiert die Nase rümpfen sondern besser das Buch nicht lesen, in diesem Stil geht es nämlich konsequent weiter).
Die Dorfgemeinschaft wird durch die Bank weg als spleenig, abergläubisch und "hinter dem Mond" beschrieben, sie glauben an Geister und Hexen und Verfluchungen. Hinter den immer schön aufrecht erhaltenen Fassaden ist jedoch nichts wunderbar sondern alles im Argen, die schonungslosen Schilderungen des Autors zeugen von einem absolut nicht sittsamen Leben. Alle Skandale - sei es Vergewaltigung, Kindsmord, Brandschatzung oder sonstige Rachegelüste aufgrund von Inzest - werden schön unter den gut geklopften Teppich gekehrt.
Jeder ist sich in Hemmersmoor jedoch schlussendlich selbst der nächste - die Schilderungen, die zu dieser Erkenntnis führen, sind aber für mich nicht immer glaubwürdig und scheinen sehr überspitzt (dass eigentlich jede Frau in den 60ern ein Vergewaltigungsopfer sein soll, ist mir nicht ganz nachvollziehbar, ebenso wenig, dass sämtliche Ehen im Dorf eigentlich zum Scheitern verurteilt sind). Der Roman lässt sich jedoch gut lesen und ist eine nette Lektüre für zwischendurch, der einen doch zum Nachdenken kommen lässt...
Edit hat den Titel "forenkonformer" gemacht