Dinge, die wir heute sagten - Judith Zander

  • Bresekow ist ein Dorf auf dem platten Land, in der mecklenburgischen Ödnis. Das ganze Dorf ist öde, es geschieht nichts und es gibt auch keine Arbeit mehr, seit mit dem Ende der DDR die örtliche LPG abgewickelt wurde. Deren leere Gebäude stehen noch, die Elpe, wie sie genannt wird. Jugendliche hängen dort herum, ziellos, mit ihrem Bier, dem einen oder anderen Joint und einer Menge unflätigem Gerede, das nur ihre Langeweile übertüncht. Die alten Bresekower sitzen in ihren Häusern, krautern ein bißchen in den Gärten oder kümmern sich um die Gräber auf dem Friedhof, die mittlere Generation ist entweder gleich ganz weggezogen oder arbeitet tagsüber woanders und kommt nur zum Schlafen nach Bresekow. Eine Zukunft hat Bresekow offenbar nicht, aber es hat eine Vergangenheit.


    Ein Teil dieser Vergangenheit wird wach, als eine der älteren Dorfbewohnerinnen stirbt und ihre Tochter zur Beerdigung anreist. Mehr als zwanzig Jahre zuvor ist diese Tochter von einem Besuch in West-Berlin nicht zurückgekehrt. Nun steht sie wieder da. Das Dorf reagiert erstaunt, ablehnend, neugierig, verärgert, ängstlich. Ingrids Rückkehr setzt einen Prozeß der Erinnerung und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Bewegung.


    Zander läßt neun Personen, die Gesamtgemeinde und die Beatles zu Wort kommen. Sie erzählen von früher und von heute, sie sagen, was sie denken und fühlen, was sie gedacht und gefühlt haben und was sie sich wünschen. Sie sprechen mit sich, aber sprechen übereinander und so entsteht das Geflecht, das am Ende die Geschichte Bresekows ungefähr seit den zwanziger Jahren bis 1999 umfaßt. Und die Geschichte Ingrids.
    Die Gemeinde kommentiert immer wieder einmal en bloc in Halbsätzen. Sie setzt Akzente und leitet zum nächsten Monolog über, jedesmal, wenn eine weitere Akzentverschiebung in der Gesamtgeschichte erfolgt. Die Gemeinde spricht grundsätzlich platt, das gibt dem Ganzen eine unverwechselbare Melodie.


    Nicht melodisch dagegen sind die Texte der Beatles. Die Autorin hat sie auf deutsch dazwischengefügt, eine ungelenke, wenig poetische Übersetzung. Bresekow ist kein Ort für Lyrik, aber die Texte verströmen eine krude Anmut, eine harsche Verlockung, wie ein Bild von etwas Perfektem, das an den Rändern eingerissen ist und in der Mitte einen Knick hat. Für einige die Sprecherinnen und Sprecher haben die Beatles zudem ihre eigene Bedeutung.


    Fünf Frauen und vier Männer erzählen, sie stehen stellvertretend für drei Generationen. In ihren Monologen wird viel persönlich-individuelles, aber auch zeitgeschichtlich Bedingtes deutlich. Die Beziehungen der Hauptpersonen werden rasch deutlich, in den Monologen wird aber auch eine Vielzahl weiterer Personen genannt, die zum Teil wichtige Funktionen in der Geschichte haben. Es geht um das Privatleben dieser Menschen, dementsprechend ist von Beziehungen, von Verliebtheiten, Beziehungen, Beziehungsproblemen, Freundschaften, Ehen die Rede. Wenn die EinwohnerInnen von Bresekow ein Talent haben dann eher das zum Unglück. Sie sind mißtrauisch, oft ängstlich, neigen zu Vorurteilen und zum Schwarzsehen. Zander hat hier ein wichtiges Charakteristikum einer von altersher eher ärmlichen landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft eingefangen. selbst wenn sie Glück haben, bleiben sie mißtrauisch. Deswegen versagen sie zuweilen in den entscheidenden Augenblicken.


    Ingrids Geschichte ist traurig und schlimm, aber sie ist nicht die einzige, die mit Bresekow negative Erfahrungen macht. Auch die Teenager-Generation, die Zander von ganz gegensätzlichen sozialen Ausgangspunkten her zeichnet, ist davon betroffen. An ihr wird aber zugleich die Frage aufgeworfen, ob man anders handeln kann, aktiv werden, nicht nur aufeinander zu gehen, sondern auch beieinander bleiben kann. Das Problem des Gefangenseins in den Verhältnissen, der Wunsch nach Freiheit und die geringen Handlungsmöglichkeiten ist ein grundsätzliches in diesem Roman und eigentlich immer präsent.


    Sprecherinnen und Sprecher sind einer in kurzer Zeit vertraut, man erkennt sie tatsächlich an ihrer Art sich auszudrücken. Die ein bißchen zu altkluge, nicht selten arrogante siebzehnjährige Romy, die es nie unter einem Wort-Wasserfall tut, ihre Mutter Sonja, die wenig Selbstwertgefühl besitzt, es deswegen allen recht machen will und sich dauernd rechtfertigt, Maria Wachlowski, die als End-Siebzigerin wiederum einen ganz anderen Blick auf die Dinge hat, weil sie andere Erfahrungen gemacht hat, ihr Sohn Hartmut, der am liebsten den Kopf in den Sand steckt, die Enkelin Ella, in Romys Alter, die, ohne daß sie richtig weiß, viel vom Realitätssinn ihrer Großmutter geerbt hat und doch durch unglückliche Umstände Schwierigkeiten ganz eigener Art bewältigen muß. Einen ganz anderen Ton bringen Henry und vor allem Ecki in die Geschichte, der gerade mit seinem vulgären Slang die Dinge auf den Punkt bringt.
    Der einzige, der nicht recht faßbar wird, ist Pastor Wietmann. Seine Art sich auszudrücken ist in solchem Maß gespreizt, daß sie einem eher wie eine Stilübung vorkommt.. Die Figur wirkt künstlich, ohne daß diese Künstlichkeit Chancen hätte, als Charaktereigenschaft aufgefaßt zu werden. Auch die Monologe Romys geraten das eine und andere Mal überlang und verlieren an Lebendigkeit.


    Hin und wieder gerät diese sehr breit angelegte Geschichte an den Rand des Klischeehaften Das liegt weniger an der Sprache, als an der Konzeption so mancher Figuren und Handlungsstränge. Ecki wird fast ein Opfer klischeehaften Denkens, Ingrids Verhalten gerade als Jugendliche ist ein wenig künstlich. Bedenklich ist, daß jedes im Roman vorkommende traumatische Erlebnis sexuelle Hintergründe hat. Es hat in der rundum verklemmten Dorfgesellschaft seine Logik, zugleich ist das Motiv aber seit vielen Jahren in der Literatur zur Konvention geworden und ich hätte mir gerade bei einem so durchdacht konzipierten Roman ein Durchbrechen auch dieses Musters gewünscht.


    Das Ende ist hoffnungsvoll. Vielleicht. Die nächste Generation ist dabei zu lernen, miteinander zu sprechen, laut, nicht nur in Gedanken. Einfach wird es trotzdem nicht. Es ist möglich, daß die nächste Lüge, die nächste Vertuschung schon wieder dabei ist. Die Zeilen der Beatles am Ende sind auf englisch, der Refrain von Strawberry Fields. Ein perfekter Schluß.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Herzlichen Dank für diese sehr interessante Rezi. Und sie führt natürlich dazu, dass ich an diesem Buch auf gar keinen Fall vorbei gehen kann. Ich werde es dann wohl gleich einfach mal bestellen. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Das Buch hat 480 Seiten und die Leute schwallern unablässig.
    :grin



    Ich bin gespannt, was Du zu den - wenigen - Einsprengseln im Mecklenburger Platt sagen wirst.
    Ich habe nicht jedes Wort verstanden, aber es es ging.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Das Buch hat 480 Seiten und die Leute schwallern unablässig.
    :grin


    schwallern?
    Bedeutet das evtl. "miteinandern mundartlich reden"? Ich kenne das Wort nicht. :-(

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Voltaire


    schnattern, schwätzen. Schwall-artig. Kann man auch auf hochdeutsch.



    buzzaldrin


    möglicherweise hatte ich einfach Glück mit dem Buch. Ich bin hineingefallen und wurde mitgeschleift. Ich bin keineswegs hundertprozentig zufrieden damit, aber seltsamerweise glücklich.


    Es wird eben nur gesprochen. Man muß alles, was passiert ist und das, was in der Jetztzeit des Romans passiert, ebenso, wie die neun Lebensläufe (plus eine Handvoll anderer) aus dem herausderivieren, was die einzelnen Personen sagen. Sie lügen auch, finden Ausreden, widersprechen sich. Haben abweichende Meinungen zu den Ereignissen.
    Das Ganze hätte auch schiefgehen könne, aber für mich hat Zander eine sehr lebensechte Gruppe geschaffen.


    Was ich oben vergessen habe:


    mir gefällt die TB-Ausgabe nicht. Die Klappbroschur ist okay, aber das Papier ist schrecklich dick. Man hat beim Lesen wieder mal einen richtigen Klopper im Arm. War nicht sehr gemütlich im Sessel. Gut, daß ich oft am Tisch lese. :grin



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Danke für diese Rezi! :wave
    Da ich selbst aus MeckPomm komme, interessiert mich das Buch natürlich sehr und ich hoffe sehr, dass ich es endlich mal in der Biblo erwische, wo ich doch schon so lange drum herum schleiche.



    So, und endlich habe ich es erwischt und mich voller Vorfreude ans Lesen gemacht. Nach nicht mal 20 Seiten erfolgte aber schon die Ernüchterung bei diesem Schreibstil. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben und ich wusste auch, dass das hier anspruchsvoll ist, aber nee, das ging gar nicht! Ich fühlte mich wie in einem Irrgarten. Es wird überhaupt nicht deutlich, worauf das hinauslaufen soll (der Klappentext vorne war schon wirr, hätte mich warnen sollen *seufz*) und man kommt sich vor, als ob man hunderte Puzzleteile hat, die aber nirgendwo zusammenpassen. Und bei aller Liebe, ich sehe auch nicht ein, dass der Leser da mit Stift und Papier sitzen muss, um die ganzen Personen zuordnen zu können. Ein bisschen mehr roter Faden wäre da echt nett gewesen.
    Das Platt habe ich natürlich sehr gut verstanden. Für den Rest bin ich vielleicht zu unterbelichtet, aber teilweise ergaben da ganze Absätze so überhaupt keinen Sinn. Nee, nicht mein Buch. Dafür ist mir meine Lesezeit nun doch zu schade. Was für ein Totalausfall.