Alles fließt – Wassili Grossman

  • Wassili Grossman, Alles fließt
    Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
    Ullstein Verlag, Berlin 2010 (Neuauflage)
    Gebunden, 256 Seiten, 24,95 EUR
    ISBN: 9783550087950


    Meine Rezension bezieht sich auf eine ältere Ausgabe, die 1985 im Albrecht Knaus Verlag München und Hamburg erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Russischen besorgte Nikolai Artemoff.


    Kurzbeschreibung (von ullsteinbuchverlage.de):


    Nach dreißig Jahren Gefängnis und Lager kehrt Iwan Grigorjewitsch in die Freiheit zurück. Er zieht nach Moskau, dann weiter nach Leningrad, findet Arbeit und eine Frau. Wieder gehen die Jahre dahin – und Iwan versucht zu verstehen, nach welchen Gesetzen das Leben funktioniert.
    Von der russischen Revolution bis hin zur Tauwetterperiode spannt Wassili Grossman den Bogen um Fragen nach Staat und Individuum, Verbrechen und Strafe, Schuld und Unschuld. Im Mittelpunkt steht dabei sein gütiger Blick auf die Fehlbarkeit des Menschen.


    Über den Autor (von ullsteinbuchverlage.de):


    Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit.


    Geschichtlicher Hintergrund:


    Nach dem Tod Stalins im März 1953 beginnt unter Chruschtschow 1956 die sog. Tauwetterperiode, die geprägt ist von einer kritischen Auseinandersetzung des Personenkultes um Stalin und den in den 1930er Jahren begangenen stalinistischen Verbrechen. Auch die Straflager öffneten sich in dieser Zeit, politische Gefangene wurden freigelassen und zum Teil rehabilitiert.
    Das Buch spielt in den 1950er/1960er Jahren in der Sowjetunion und schildert den Weg Iwan Grigorjewitschs nach seiner Entlassung aus dem Straflager.
    Der Autor schrieb das Buch in den frühen 1960er Jahren, vor seinem Tod 1964 konnte er es nicht noch einmal abschließend bearbeiten. In der Sowjetunion konnte das Buch erst 1989 erscheinen. In Westdeutschland erschien es erstmals 1972.


    Meine Meinung:


    Das Buch beginnt mit der Beschreibung einer Bahnfahrt. Wir begleiten Iwan Grigorjewitsch auf seiner Fahrt aus dem Lager im fernen Osten Russlands in die Hauptstadt Moskau. Die Schilderung ist eindrücklich, meist sitzt Iwan still auf seinem Platz, die Hände auf dem Schoß, während die anderen Reisenden sich munter unterhalten, ihre Essenspakete miteinander teilen, Karten spielen. Als Iwan von einem der Mitreisenden etwas unfreundlich aufgefordert wird, ein bisschen beiseite zu rücken, steht Iwan auf und verlässt wortlos das Abteil. Man kann sich als Leser denken, welche Lagererfahrungen hinter dieser Reaktion stecken.
    Die erste Nacht in Freiheit verbringt Iwan bei seinem Vetter und dessen Frau. Iwan bemerkt die Versuche seines Vetters, sich die Schuld der Vergangenheit schönzureden. Da Iwan den beiden nicht zur Last fallen will, reist er schon am nächsten Tag weiter nach Leningrad. In Leningrad hat er studiert, in den Straßen der Stadt trifft er auf Bekannte. Doch schnell stellt sich auch hier wieder die Frage von Schuld und Unschuld. Seine Geliebte aus der Zeit vor der Verhaftung besucht er nicht, sie ist längst mit einem anderen verheiratet …


    Immer wieder finden sich in der Erzählung von Iwans neuem Leben starke, beeindruckende und nachdenklich stimmende Sätze:
    Zum Beispiel schreibt Grossman über den Tod Stalins (Zitat von Seite 34):
    „Stalin starb außerplanmäßig, ohne Anweisung der Direktivorgane. Stalin starb ohne persönliche Anweisung des Genossen Stalin.“
    Oder über die nach jahrzehntelanger Abwesenheit in Vergessenheit geratenden Inhaftierten (Zitat von Seite 43):
    „Die Zeit arbeitete ohne Eile, gründlich – erst meldete sich der Mensch im Leben ab, zog ins Gedächtnis um, dann verlor er die Zuzugsgenehmigung für das Gedächtnis, wanderte ins Unbewusste aus, und nun tauchte er nur noch selten auf, wie ein Stehaufmännchen, erschreckte durch die Plötzlichkeit seines sekundenhaften Erscheinens. Die Zeit arbeitete und arbeitete und grub in die Erde, und Iwan hat schon ein Bein gehoben um aus dem dunklen Keller des Unterbewussten seiner Freunde hinüberzuwechseln und seinen ständigen Wohnsitz im Nichtsein zu nehmen, in der ewigen Vergessenheit.“


    „Alles fließt“ hätte ein großartiger Roman werden können, wenn der Autor bei der Geschichte Iwans geblieben wäre.
    Das Problem des Buches ist jedoch, dass der Text zwar als Roman beginnt, aber als Essay endet. In der zweiten Hälfte des Buches dient die Erzählung um Iwan nur noch als dürres Gerüst für seitenlange essayistische Ausführungen des Autors bspw. über den Charakter Lenins und Stalins, über die Entwicklung Russlands von der Leibeigenschaft über die Revolution bis zur Unfreiheit des Sozialismus, Kommunismus und Stalinismus. Das Schicksal der Romanfigur gerät in den Hintergrund und dient nun nur noch als Plattform für politische und geschichtliche Analysen, für eine Abrechnung mit den Machthabern, für Plädoyers gegen Ungerechtigkeit und für die Freiheit. Für mich las sich dies leider sehr ermüdend. Eine Meinung zum Stalinismus habe ich mir längst gebildet, der Autor rannte damit bei mir offene Türen ein, seiner Agitation hätte ich nicht mehr bedurft. Zudem kommen diese theoretischen Ausführungen sehr holzschnittartig daher.
    Viel lieber hätte ich hingegen weiter die Geschichte Iwans gelesen, wäre gerne mit ihm noch ein Stück gegangen.


    Natürlich muss man dies im zeitgeschichtlichen Kontext sehen. Der Autor wollte aufrütteln, protestieren, aufdecken, entlarven. Vielleicht erschien ihm die Form des Romans dafür irgendwann zu schwach. Vielleicht hätte er, wenn er die Zeit für eine abschließende Überarbeitung gehabt hätte, diesen Genre-Widerspruch gemildert oder abgeändert. Die Herangehensweise des Autors an den Stoff ist der damaligen Zeit geschuldet. Genre-Diskussionen können wir uns heute leisten. Damals wäre das Buch, wenn es hätte erscheinen dürfen, mit Sicherheit Sprengstoff gewesen.


    Ich denke, der Verlag ordnete das Buch absichtlich keinem Genre zu. Was hätte unter dem Titel auch stehen sollen? Romanhafter Essay? Essayistischer Roman?
    Für mich als heutigen Leser war das Buch wegen der essayhaften Ausführungen trotzdem eine Enttäuschung, denn ich hatte einen Roman erwartet. Und wenn ich einen Roman lese, möchte ich, dass mir eine Geschichte erzählt wird. Nicht mehr und nicht weniger.
    Deshalb von mir leider nur 7 Punkte.