Andrej Wolos: Churramobod, Stadt der Freude

  • Klappentext:
    Wenn Sieger zu Besiegten werden. Hintergrund dieses »Romans in punktierter Linie« ist die Geschichte der Russen in Tadschikistan, das 1868 Russland einverleibt wurde und seit 1929 als südlichste und ärmste der Unionsrepubliken zur Sowjetunion gehörte. 1991 erklärte auch Tadschikistan seine Unabhängigkeit, und für die Russen, die mit rund fünfzehn Prozent drittgrößte Bevölkerungsgruppe, begann die Zeit von Rückzug und Vertreibung. In zwölf Kapiteln - auch unabhängig von einander lesbaren Erzählungen, zwischen denen ein enger Zusammenhang von Ort und Thematik besteht - entwirft der Autor eine poetische Chronik der Geschehnisse der letzten dreißig Jahre. Die Hauptfiguren sind Menschen unterschiedlichster sozialer Schichten und Altersstufen, vom Kind bis zur Greisin, gelegentlich sogar Tiere: eine Schildkröte, eine Schlange. Was sie verbindet, ist die schwierige Liebe zu diesem dem gelernten Zentraleuropäer so fernen Landstrich. In einem Fall wirkt die merkwürdige Faszination dieser so anderen Welt und ihrer Kultur derart stark, dass Sergej, ein »echter Russe« und junger Wissenschaftler mit Wohnung und festem Arbeitsplatz in Moskau, der eigentlich nur für eine Dienstreise ins Land gekommen war, freiwillig alle Brücken abbricht, um fortan als Sirodshiddin unter den Moslems Tadschikistans zu leben, von nichts mehr träumend, als eines Tages wirklich »zugehörig« zu werden. Für den denkbar höchsten Preis scheint ihm dies zuletzt auch zu gelingen. Ein eigenwillig sensibler Blick auf das in den letzten Jahren immer wieder zu trauriger Aktualität gelangte Problem der sogenannten »ethnischen Konflikte«. Wolos' Sieger und Besiegte bewegen sich durch Seelenräume, die so in der Literatur schon seit längerem nicht mehr betreten worden sind.


    Über den Autor:
    Andrej Wolos wurde 1955 in Dushanbe, ehemals Stalinobod, der Hauptstadt Tadschikistans, geboren. Er arbeitete als Geophysiker und lebt heute als Schriftsteller in Moskau. "Churramobod" wurde 1998 mit dem russischen Anti-Booker-Preis ausgezeichnet.


    Meine Meinung:
    Churrambobod ist eine fiktive Stadt in Tadschikistan und bildet den Hintergrund für die zwölf Kapitel oder vielmehr zwölf voneinander unabhängigen Geschichten des "Romans in punktierter Linie". Die Geschichten erzählen über die staatlich gelenkte Zuwanderung von Russen nach der Gründung der Tadschikischen Sowjetrepublik 1929, über die Schwierigkeiten damit, in dem fremden, unwirtlichen Land wirklich anzukommen, über extreme Witterungsverhältnisse, Armut, Freundschaft, Feindschaft, Bürgerkrieg, Fremdenhass, Vertreibung und Heimatlosigkeit in den 1990er Jahren. Denn die Heimkehrer aus Tadschikistan sind fremd in Russland.


    Leben, Zusammen- und Überleben in einer Stadt, in der nicht nur Freude herrscht, ist das Thema des Buches, die Schnur, auf welcher die Geschichten aufgereiht sind. Zu Beginn geht es um das alltägliche, einigermaßen friedliche Miteinander von Tadschiken und Russen zu Sowjetzeiten, dann hört man von Greueltaten an Armeniern in Aserbaidschan. Man ist sich einig: so etwas könnte bei uns nicht passieren. Doch es kann. Einige Tausend armenische Flüchtlinge aus Aserbaidschan sollen in Churramobod unterkommen und Wohnungen erhalten - und das, wo viele Churramoboder seit Jahren auf eine Wohnung warten. Es kommt zu blutigen Auseinandersetzungen. Aus Menschen, die sich nur ein kleines Glück wünschten, werden Täter und Opfer. Wer trägt die Schuld? Macht es einen Täter weniger schuldig, wenn ihm selbst Leid zugefügt wurde? Wie sieht das Leben aus, wenn jederzeit geschossen werden kann, wenn Strom, Wasser und Gas tagelang ausfallen, wenn man beim Anstehen nach Brot Gefahr läuft, von der Menge erdrückt zu werden und wenn einem alles weggenommen werden kann, einfach so? Aber es gibt auch Hoffnung: manche alten Freundschaften bleiben, auch wenn einer Russe ist und der andere Tadschike.


    Die einzelnen Kapitel sind keine abgeschlossenen Geschichten, eher Momentaufnahmen mit offenem Ende. So entsteht ein Gesamtbild über ein Stück Zeitgeschichte, das mich sehr nachdenklich macht.


    Ein Kapitel hat mich besonders berührt: "Ushik". Das ist die Verkleinerungsform von "ush", die Natter. Eine Russin lebt allein; eines Tages taucht aus einem Spalt im Küchenfußboden eine Natter auf. Die Natter ist scheu, die Frau auch. Dennoch stellt sie der Schlange Milch hin. Sie gewöhnen sich aneinander, nach ein paar Monaten fühlt sich die Frau weniger einsam, weil die Natter bei ihr wohnt. Es ist ein hübsches Tier; die Frau versucht sogar, sie zu malen. Eines Tages muss die Frau verreisen, um im fernen Russland eine neue Heimat für Tochter und Schwiegersohn zu finden, und will einen Nachbarn bitten, sich um die Schlange zu kümmern - doch der stellt fest, dass das keine harmlose Natter ist, sondern eine Efa, eine gefährliche Giftschlange! Die Frau ist ratlos und reist ab, die Schlange bleibt sich selbst überlassen zurück. Zitat (S. 204): "Konnte man vernünftigerweise mit einer Giftschlange in einem Haus zusammenleben wollen? Freilich hatte ihr Ushik die ganze Zeit in keiner Weise seine Giftschlangennatur offenbart!" Das Ende ist vorherzusehen. Für mich bleibt die Frage offen: War die Schlange vielleicht deshalb harmlos, weil die Frau sie wie eine ungefährliche Natter behandelte … ?


    Für diejenigen, die mehr über den Bürgerkrieg in Tadschikistan wissen möchten, hier ein Link zu einem Artikel von 1996.

  • Hey, danke für die ausführliche Rezi! Das Buch passt genau in mein Beuteschema, ich hatte auch schon mal davon gehört, war mir aber nicht sicher, ob das mit den zwölf Geschichten etwas für mich ist. Jetzt werd ich es mir aber mal notieren.
    Leider wächst mein Lesestapel ziemlich schnell, seit ich bei den Eulen bin … :rolleyes


    Tauchen denn einige Personen mehrmals auf oder gibt es in jeder der Erzählungen komplett neues Personal?

  • Zitat

    Original von Rika-
    Tauchen denn einige Personen mehrmals auf oder gibt es in jeder der Erzählungen komplett neues Personal?


    Es gibt in jeder der Erzählungen neues Personal. Figuren aus anderen Kapiteln werden allenfalls mal in einem Gespräch oder am Rande erwähnt. Einige Ortschaften und natürlich Churramobod kommen mehrfach vor.


    Die ersten Kapitel sind eher ruhig und unspektakulär - ich muss gestehen, dass ich zwischendrin noch etwas ganz anderes gelesen habe - dann hat mich das Buch doch noch in seinen Bann gezogen. Ich war immer auf der Suche nach der Auflösung, wie die einzelnen Episoden zusammenhängen. Eine Auflösung habe ich zwar nicht gefunden, aber am Schluss war es für mich doch eine runde Sache - mit offenem Ende.

  • Ich hab jetzt viereinhalb der zwölf Geschichten gelesen und gebe es hier auf. :-(


    Meine Meinung fällt leider nicht so sehr gut aus:


    Ich hab mich zu oft gefragt, was mir der Autor eigentlich sagen will und worauf die jeweilige Geschichte denn nun hinausläuft. Idas Formulierung "Momentaufnahmen mit offenem Ende" trifft es gut. Es sind Stimmungsbilder, keine in sich abgeschlossenen Geschichten.
    Mitunter waren es auch in einer Geschichte ziemlich viele Personen auf einmal, da fing ich dann an zu sortieren und wenn ich dachte, ich hab‘s jetzt, war die Geschichte schon wieder zu Ende und ich musste mich wieder in eine neue Situation eindenken.
    Außerdem waren es mir zu viele tadschikische Begriffe und Sätze. Zwar gibt es im Anhang Worterklärungen und Anmerkungen, aber da stand bei weitem nicht jeder Begriff erläutert, den ich nachgeschlagen habe. Zudem nervte dann auch irgendwann das ständige Blättern ans Buchende.


    Sprachlich und von den Formulierungen her habe ich nichts auszusetzen. Das Buch liest sich gut, Andrej Wolos kann schreiben … aber das allein macht eben für mich auch noch kein gutes Buch.


    Ich vergebe nur 4 Punkte.

  • Zitat

    Original von Rika-
    Ich hab jetzt viereinhalb der zwölf Geschichten gelesen und gebe es hier auf. :-(


    Ungefähr an der Stelle habe ich das Buch auch zur Seite gelegt und zwischendrin etwas komplett anderes gelesen. ;-)


    Wenn Du dem Buch doch noch eine Chance geben möchtest - versuch es mit den Kapiteln Sieben "Ushik" und/oder Zehn "Das Haus am Fluss". Die sind in sich abgeschlossen, lesen sich ganz gut und tragen meiner Meinung nach einiges dazu bei, dass man der Antwort auf die Frage, was der Autor eigentlich sagen will, ein Stück näher kommt.


    Die tadschikischen Begriffe habe ich nicht alle nachgeschlagen ...

  • Zitat

    Original von Ida
    Wenn Du dem Buch doch noch eine Chance geben möchtest - versuch es mit den Kapiteln Sieben "Ushik" und/oder Zehn "Das Haus am Fluss". Die sind in sich abgeschlossen, lesen sich ganz gut und tragen meiner Meinung nach einiges dazu bei, dass man der Antwort auf die Frage, was der Autor eigentlich sagen will, ein Stück näher kommt.


    Hallo Ida,


    "Ushik" hatte ich schon gelesen, bevor ich das Buch dann doch weggelegt habe, weil Du diese Geschichte schon in Deiner Rezi lobend erwähnt hattest. Ich fand dieses Kapitel okay, nicht überragend ;-), aber in Ordnung.
    Die ersten Geschichten fand ich allesamt nicht so prickelnd, den letzten Anstoß, das Buch beiseite zu legen, gab mir allerdings das 11. Kapitel "Fremd". Beim Vorblättern und schauen, was wohl noch so kommen würde, hab ich ausgerechnet in dieses Kapitel reingelesen, und zwei grausame Szenen erwischt (ich meine das, was dem Baby und das, was dem Hund da angetan wird :-(). Da hab ich dann nur noch gedacht: Nee, das tu ich mir nicht rein!


    Nun hab ich aber aufgrund Deiner Empfehlung gestern Abend noch "Das Haus am Fluss" gelesen und diese Geschichte hat mir sehr gut gefallen! Danke für den Tipp! Ich hätte was verpasst. Das war doch mal eine runde Sache, ich fand es sympatisch, dass die Hauptperson sich gegen das Unrecht wehrte, auch wenn‘s von vornherein aussichtslos erschien, und zum Schluss gab‘s ja sogar noch eine unerwartete Wendung. Und eine Aussage hatte diese Geschichte auch (und zwar: wie verhalten sich Menschen, wenn sich die politischen Machtverhältnisse ändern). Das war gut ausgearbeitet, sehr schön zu lesen. :-)
    Schade, dass es in diesem Buch nicht mehr Geschichten solcher Art gibt.