OT: The Spy Game 2009
Anna und Peter sind, Kinder, acht und zehn Jahre alt, als ihre Mutter an einem nebelverhangenen Januarmorgen das Haus verläßt und nie mehr zurückkommt. Die Erwachsenen sagen, daß es ein Autounfall war. Annas Bruder gibt sich mit der Erklärung nicht zufrieden. Es ist die Zeit der Jagd auf sowjetische Spione in England, eine Handvoll wird eben in den Tagen des Autounfalls enttarnt. Beweis genug für den Jungen, daß seine Mutter nicht tot, sondern geflüchtet ist, untergetaucht, vielleicht sogar zurück in die Sowjetunion gegangen. Im Lauf der kommenden Jahre zieht er die kleine Schwester immer mehr in seine Recherchen und Vorstellungen mit hinein. Anna kann sich kaum wehren, ist zugleich aber auch fasziniert von den Lösungsversuchen, umso mehr, als sich im Lauf ihrer kindlichen Forschungen zeigt, wie wenig sie eigentlich von ihrer Mutter wissen.
Parallel dazu wird die Geschichte von Annas Klavierlehrerin erzählt, die mit einer Verschickungsaktion jüdischer Kinder aus Deutschland nach England kam und sich dort ein neues Leben aufgebaut hat. Die Mutter von Anna und Peter war ebenfalls Deutsche, sie kam auf der Flucht vor der Roten Armee nach Berlin, wo sie im englischen Sektor Arbeit fand und schließlich einen englischen Offizier heiratete.
Nach einer familiären Krise, die durch Peters Besessenheit vom Spionage-Thema ausgelöst wird, scheint das Rätsel des Verschwindens der Mutter tatsächlich aus der Welt geschafft. Es ist Anna, die sich bis weit ins Erwachsenenalter nicht von der Frage lösen kann, ob ihre Mutter nicht doch eine sowjetische Spionin gewesen ist. Mehr als vierzig Jahre nach ihrem Verschwinden, macht sich Anna auf die Reise nach Rußland, um sich endgültig von den Gespenstern ihres Lebens zu befreien.
Erzählt wird aus der Ich-Perspektive der kindlichen und zugleich der erwachsenen Anna. Man sieht die Dinge aus Kinderaugen und hört die Fragen und Kommentare einer Erwachsenen. Das geht unauffällig ineinander über, man gerät man nie ins Zweifeln, wer gerade spricht, selbst wenn die Perspektive mitten im Satz wechselt.
Sprachlich-stilistische ist fast schöner als schön. Harding arbeitet mit Bildern von Nebligem, Verhangenem, es ist ein Buch, in dem immer Winter zu sein scheint, alles unter eine Schneedecke verborgen ist, selbst wenn von Sommerferien erzählt wird. Licht enthüllt, aber eher durch ein rasches Aufblitzen. Ein kleines Puzzleteil des Rätsels leuchtet auf, der Rest liegt weiterhin im Schatten. Manchmal gerät das an den Rand einer solchen Vollendung, daß es fast gesucht wirkt. Zudem hat der literarisch so wunderbar gestaltete Nebel auch Unschärfe zur Folge, da scheint die Liebe zum geschriebene Wort über die Bedeutung der Handlung zu triumphieren. Das ist der Fluch der Perfektion.
Der Roman zeigt kaleidoskopartig direkte Folgen des 2. Weltkriegs bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts und indirekt weit darüberhinaus, und zwar am Beispiel einer kleinen Familie. Er erzählt davon, wie gespenstisch Vergangenheit ist, wenn man sich nicht recht damit auseinandersetzen kann. Er erzählt von den Folgen verdrängter Verluste und damit ist nicht nur das Verschwinden der Mutter gemeint.
Das Ende ist wunderschön, die Lösung, die schon vorher geboten wird, allerdings befriedigt nicht ganz, weil Harding dann doch auf Bekanntes zurückgreift und den Schritt auf einen neuen Aspekt eines alten Themas gerade nicht wagt.
Anmerkung: empfehlenswertes Buch, weil es einmal etwas ganz anderes ist, aber es ist nicht leicht zu fassen. Von daher ist es schade, daß es als teure HC-Ausgabe auf den Markt kam. Mit einem etwas preiswerteren TB hätte man sich leichter auf den Versuch - der eben völlig schief gehen kann - eingelassen.