Schreibwettbewerb März/April 2011 - Thema: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne"

  • Thema März 2011:


    "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne"


    Vom 01. bis 31. März 2011 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb März 2011 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 1. April eingestellt. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!

  • von Tom



    Manchmal denkt er an die Zeit zurück, als er noch mit der Schreibmaschine gearbeitet hat. Das klobige Ungetüm wurde auf den Schreibtisch gehoben, wo es zu schnarren begann, nachdem er es eingeschaltet hatte. Dann prüfte er das Farbband, spannte das erste Blatt ein, stellte Tipp-Ex bereit, klappte sein Notizbuch auf, ließ die Finger knacken und starrte anschließend lange auf das leere Papier - bis er zu spürte, welche Geschichte zu diesem weißen Bogen gehörte.


    Heute genügt ein Doppelklick auf das Symbol für das Textprogramm. Softwareentwickler haben sich viel Mühe damit gegeben, es auf dem Bildschirm wie ein Blatt Papier aussehen zu lassen, aber es ist nicht dasselbe. Er kann drauflostippen und mit wenigen Klicks wieder alles löschen. Er kann beliebig viele Fassungen speichern, Kommentare einfügen, die Formatierung ändern, die Schriftarten wechseln, automatisch Wörter zählen lassen, den Entwurf per Mail an seine Lektorin versenden und vieles mehr. Das findet er schön, wenn er ehrlich zu sich ist. Trotzdem vermisst er die Arbeit mit der Gerätschaft, die aus jeder Tastenbetätigung etwas generierte, das sich nur mühselig wieder ändern ließ. Er hat sich damals mehr Gedanken darüber gemacht, ob die richtigen Worte in der richtigen Weise aufeinander folgten. Und auch darüber, was sie erzählten.


    Er zwinkert, um die nostalgischen Träumereien zu verscheuchen. Aus diesem virtuellen leeren Blatt soll der Anfang seines zwanzigsten Romans werden. Zwanzig! Er blickt kurz zum Bücherregal, wo seine Bücher und die Übersetzungen drei Fächer einnehmen. Vor fünfunddreißig Jahren, als er seine erste Kurzgeschichte auf der rasselnden Maschine getippt hat, hätte er niemandem geglaubt, der diese Karriere prognostiziert hätte. Er hätte gelacht und auf den Text vor sich gewiesen, die Geschichte einer einsamen Frau, die sich in ihrer Verzweiflung einen fiktiven Ehemann ausdenkt und ihr Leben fortan dessen Fürsorge widmet, was sehr eigenartige, aber vor allem traurige und warmherzige Momente zur Folge hat. Diese Story liegt, auf achtzehn Seiten aus echter Zellulose getippt, in einer Kiste im Keller. Er hat sich mit ihr damals an einem Wettbewerb beteiligt, danach aber nichts mehr von diesem Wettbewerb gehört. Trotzdem kann er sich noch genau an den Anfang der Geschichte erinnern. Sie begann so: "Als Monika die Unterarme vom Kissen auf dem Fensterbrett gehoben hatte, betrachtete sie nachdenklich die Abdrücke, die ihre Arme dort hinterlassen hatten. Dann wandte sie sich um und sah ihr Wohnzimmer an. Die Tapeten, die seit Jahrzehnten an den Wänden klebten, das dunkelbraune Vertiko, die Hausbar hinter der gelben Rauchglasscheibe, die sie schon seit einer Weile nicht mehr geöffnet hatte, das verschlissene Velourssofa, der Staub im Licht der Herbstsonne. Monika seufzte laut."


    Er atmet tief ein und lässt die ausgestreckten Hände für einen Augenblick über der Tastatur schweben, senkt sie ab. Er schließt kurz die Augen. Und dann tippt er:
    "Sabrina sprang auf, als die Türklingel ertönte. Im Flur prüfte sie kurz den Sitz des Negligés, schob einen Träger über die Schulter. Sie öffnete die Tür, hinter der, wie sie erwartet hatte, der schmucke, junge Postbote stand. Sie lächelte, denn der breitschultrige blonde Mann fixierte sofort ihr größzügiges Dekolleté."

  • von wirbelwind



    Du gehst über den erdigen Weg. Siehst eine Andeutung von Grün, die sich aus dem Erdreich räkelt. Die wachsen will, hoch hinaus, zu voller Größe erstreckt. Du hebst den Blick, voller Freude, Deine Nase wird von ersten Sonnenstrahlen gekitzelt. Du wagst einen weiteren Schritt und erfreust dich an den glockenhellen Stimmen all der kleinen gefiederten Freunde hoch oben in den Bäumen, die Du so vermisst hast. Du wirst dir selbst ganz und gar bewusst, atmest tief ein, denkst für einen Moment an Nichts.


    Ganz gleich, was Dich in diesem Moment bedrückt, welche Gedanken Dich in der Nacht auch wach halten, welche Stationen Deines Lebens Dich gerade quälen – in diesem Moment kommst Du bei Dir selber an. Deine schweren Gedanken fallen von Dir ab. Bei jedem Atemzug geht es Dir ein wenig besser. Auch wenn es nur für einen kurzen Moment sein mag, diesen genießt Du in allen Zügen.


    Viel zu lange dauerte die Dunkelheit an, die nun vom kommenden Sommer durchbrochen wird. Du erwartest nicht viel. Alles, was Du jetzt gerade brauchst, sind ein paar Lichtstrahlen auf der Haut. Wärmere Gedanken in der Luft. Bunte Blüten, die Dein Herz erfreuen. Ab und an ein kleiner Marienkäfer, der Dir ein wenig Glück schenken möchte. Kleinigkeiten, die wieder zum Vorschein kommen, und der Welt ein neues Kleid verleihen.


    Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, und diesem ganz besonders, denn Dir wird bewusst, wie sehr das Leben von den Kleinigkeiten geprägt wird, die der Mensch so gerne übersieht. Also atme tief durch – und bau Dir Deinen ganz eigenen Sommernachtstraum zusammen.

  • von imandra777



    Tik … Tak … Tik … Tak ...


    Sophie hört den Zeiger ihrer Uhr im Hintergrund, während sie am Schreibtisch sitzt. Mit einem langen Seufzer sieht sie sich die Uhrzeit an. Sechs Uhr schon. Zeit sich Abendessen zu machen. Die Wohnung hat sie heute Vormittag geputzt. Gesaugt, gewischt, abgeputzt und gespült. Auch die Fenster sind geputzt und ein kleiner Spaziergang war bei dem schönen sonnigen Wetter auch drin gewesen. Dann war sie ausgeruht und hatte sich endlich an den Schreibtisch gesetzt. Als erstes hat Sophie ihren Laptop angeschaltet. E-Mails nachgesehen, sich bei den Eulen umgesehen, Nachrichten gelesen und noch etwas mit ihrer besten Freundin geskyped, die noch in der Heimat weilte.


    Tik … Tak … Tik … Tak …


    Die Uhr hatte sie daran erinnert, dass sie drei Stunden nur mit Freizeitaktivitäten und Blödsinn verbrachte. Sie trennte die Verbindung zum Internet und holte ihre Notizen für die Bachelorarbeit heraus. Die Schokolade stand schon passend auf den Tisch, ihre Nervennahrung. Nachdem sie alles aus der Unitasche herausgeholt hat, fällt ihr der Roman in die Hand, den sie gerade las. Mhm… Sie könnte doch… ja, zumindest drei Seiten.


    Tik … Tak … Tik … Tak …


    Sechs Uhr. So spät war es nun. Und im Buch hatte sie fünfzig Seiten gelesen, anstatt nur drei. Sophie fluchte laut auf. Sie kam aber auch zu nichts so. Abrupt stand sie vom Schreibtisch auf, legte das Buch auf den Nachttisch und machte sich eine Scheibe Butterbrot. Ihre gute Laune über das schöne Wetter war verflogen und der Hass auf die eigene Antriebslosigkeit wuchs.


    Tik … Tak … Tik … Tak …


    Aus dem CD- Spieler erklangen die sanften Töne der Peer Gynt Suite. Das Butterbrot stillte Sophies Hunger und die Tasse Früchtetee dampfte neben ihr.


    Tik … Tak …


    Das Ticken der Uhr geriet in den Hintergrund. Sophie hörte sie nicht mehr, während sie tippte und immer wieder ein paar Notizen weglegte. Endlich kam sie voran und ein Lächeln lag auf ihren Lippen, wenn sie nicht gerade an einer Formulierung feilte.


    Tik …


    Die Tasse Tee war ausgetrunken und die Peer Gynt Suite wiederholte sich. Der Mond stand groß vor dem Fenster und schien auf den Schreibtisch, der nur von der Schreibtischlampe erhellt wurde. Er schien Sophies Lächeln zu erwidern. Spät in der Nacht übermannte die Müdigkeit Sophie.



    Im Bett schlief sie mit diesem zauberhaften Lächeln ein. Sie war mit sich wieder im Reinen. Anfangen war das Zauberwort gewesen. Denn in jedem Anfang wohnte ein Zauber, ein Zauber, der die Laune hebt.

  • von rienchen



    Lukas streicht noch etwas von dieser mattierenden Pflegecreme auf sein Kinn, die auch Patrick Dampsey zu einem strahlenden Aussehen zu verhelfen scheint. Freitagabend. Zwei Tage Pause von der nervigen Ausbildung beim Augenoptiker. Zum Schluss noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Perfekt!


    Über dem Kirmesplatzschotter liegt ein Duftmix aus gebratenen Mandeln, Nackensteaks mit Zwiebeln und billigem Unisexparfum. Lukas, Marvin und Flo nippen an ihren Bierflaschen, Kesha ballert lasziv "Blah Blah Blah" in die Ohren der anwesenden Spätpubertierenden. Die Luft ist staubig und angefüllt mit dieser knisternden Erwartung, dass heute Nacht noch etwas passieren wird.


    Marvin möchte gerne auf die "Wilde Maus", Flo verdreht grade peinlich berührt die Augen, da hören sie einen sonoren Singsang: …..Am Schmetterling vorbei in den Kasten.........ein Wurf zwei Euro…am Schmetterling vorbei in den Kasten......
    An der hinteren Verkleidung der Wurfbude befindet sich eine Art Propeller, die grellbunten Plastikschmetterlinge an den Flugblättern rotieren im Zeitlupentempo. Der übergewichtige Budenbesitzer scheint fast in Trance verfallen. ….."Am Schmetterling vorbei in den Kasten"....…..zwei Euro!.......Die Jungs feixen. Das ist so langweilig, das ist schon wieder gut. Lukas möchte zuerst. Er greift den Ball, nimmt übertreibender Weise Augenmaß, zielt, zielt nochmal, und- Das Wurfgeschoß prallt mit voller Wucht vom Schmetterling zurück. Marvin und Flo gröhlen und halten sich die Bäuche, Lukas bückt sich nach dem Ball......und stolpert in grüne Augen.


    "Ich bin Rasika", sagt das Mädchen. Nein, sie haucht es. Alles ist jetzt. Seine Kumpels lachen nicht mehr. Kesha flötet "Rah- Sih- Kah“. Lukas sieht nur noch grüne Augen und süße Grübchen in einem rosigen Gesicht.


    Sie geben sich in den nächsten Wochen ganz dem anfänglichen Zauber ihrer Liebe hin. Lukas und Rasika. Wenn sich ihre Hände zufällig berühren, sprühen kleine Funken. Wenn sie sich küssen, spielen ihre Zungen Pingpong. Der irrsinnige Tanz der Glückshormone auf dem Höhepunkt ihrer kümmerlichen Existenz.


    Lukas döst in der Sonne. Diese langen, heißen Tage machen ihn träge. Vivian, Leni und Mika spielen drüben mit den Schottersteinen. Seine Kinder stören ihn kaum. Rasika reicht ihm eine Flasche Bier aus dem Wohnwagen, immerhin schon vierzehn Uhr. Ihre Haare hängen strähnig im Gesicht, die Grübchen irgendwo vergraben im Fett ihrer verglühten Wangen. Das speckige T- Shirt labbert über der ausgebeulten Leggings. Kein Wunder, drei Kinder. "Zeit zu arbeiten, Schatz", sagt sie, fast emotionslos. Er setzt sich schnaufend in den Plastikstuhl an der Wurfbude, die er Rasikas Vater vor vier Jahren abkaufte. Wer braucht schon eine Ausbildung?


    Ein Junge steht schon vor der Bude, er kauft sich einen Wurf Vergnügen. Der Ball liegt locker in seiner Hand, als seine Augen ein junges, schönes Mädchen finden. Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln im Vorbeigehen, Grübchen in den Wangen. Leise tänzelnde Hormone.
    Der Junge nimmt übertreibender Weise Augenmaß, zielt, zielt nochmal, und.......


    Lukas` Augen sind weit aufgerissen, als er den Jungen an den Schultern packt und schüttelt:


    "Du wirfst an dem verdammten Schmetterling vorbei in den Kasten, verstanden? Und dann sieh` zu, dass Du nach Hause kommst, schnell!"

  • von naurina



    Sie faltete einen der größeren Umzugskartons umständlich zusammen. Ihre Arme kribbelten vor Anstrengung, ihre Knie waren wackelpuddingweich. Sie wollte sich setzen, am besten gleich hinlegen. Doch stattdessen zwang sie sich den Karton in den Gang zu bringen. Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem kniehohen braunen Stapel, der ihr zeigte, wieviel sie schon geschafft hatte. Erschöpft ließ sie sich neben einer kleinen, aber schweren Kiste mit der Aufschrift Alben auf den Boden sinken. Die dünnen Arme als Kissen auf dem Karton drapiert, vergrub sie ihr Gesicht darin und versteckte sich vor der Welt.
    Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen, als sie in Gedanken noch einmal in die beiden verräterischen Gesichter blickte. Seine Wangen leicht gerötet, ihre hellbraunen Haare mit den ersten Silberfäden hatten sich der gewohnt strengen Frisur entledigt und hingen ihr fröhlich über die nackten Schultern. Zu reden gab es nichts mehr. Die Situation sprach für sich.
    In Wirklichkeit hatte die Zeit sich kein bisschen um ihr zersprungenes Herz geschert. Der Sekundenzeiger ihrer neuen Uhr war genau einmal um das hellblaue Ziffernblatt gewandert, ehe sie die Augen energisch wieder aufschlug und sich geschäftig daran machte, den Karton auf dem sie sich eben noch gebettet hatte, auszuräumen. Keine Zeit für Tagalpträume, ihr neues Leben wartete.
    Der Inhalt der Kiste war schnell verstaut. Fotoalben ins Wohnzimmer, in das weiße deckenhohe Bücheregal. Das hatte sie sich als allererstes gekauft, gleich nachdem der Mietvertrag unterschrieben war. Er hatte ihre Leidenschaft für Bücher nie verstanden. Die alten Poesiealben schichtete sie in den großen rotbraunen Weidenkorb im Schlafzimmer zwischen die anderen Erinnerungen. Die Tagebücher fanden im Nachttisch Platz.
    Nur noch ein Handgriff und die Kiste war leer. Mit dem letzten Album in der bleichen Hand ließ sie sich auf das provisorische Bett sinken. Im Möbelhaus hatte man sich für unvorhersehbare Lieferschwierigkeiten entschuldigt. Sie wäre beinahe vor Wut geplatzt. Mit 40 schlief man nicht mehr auf einer Matratze auf dem Fußboden! Ihr Herz stolperte, als sie das Album aufschlug. Zart befühlte das weiche cremefarbene Büttenpapier mit den Fingerspitzen, die vom Möbelschleppen ganz rau geworden waren. Die erste Seite präsentierte ein Aufnahme vor dem Standesamt. Mit vor Aufregung leicht geröteten Wangen strahlte er ihr aus dem Album entgegen. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Künstlerisch geschwungene Schreibschrift. Dunkelblaue Tinte. Ihre Trauzeugin hatte sich mit dem Fest große Mühe gegeben. Auf dem Foto wirkte ihre Frisur allerdings ein wenig streng

  • von Eisnebelhauch



    ‚Wo ist deine Geschichte?‘
    Ich blinzelte und sah mich verstohlen in meiner Küche um. Niemand da.
    ‚Wo ist deine Geschichte?‘ Das „WO“ war jetzt dramatisch in die Länge gezogen und die Stimme hörte sich leicht genervt an. Wieder drehte ich meinen Kopf, bis ein Knacken im Halswirbel zu spüren war. Die Quelle der Stimme blieb mir jedoch weiterhin verborgen und ich versuchte mich abermals in Ignoranz, was mir leider nicht gelang, denn einen kurzen Moment später pochten meine Schläfen, als hätte ich einen Presslufthammer im Kopf. Ich presste meine Hände auf die Ohren und hoffte den Schmerz und das Rauschen zerquetschen zu können, aber bei all dem Radau in meinem Inneren vernahm ich ein leises Flüstern: ‚Ich glaube das reicht, lass gut sein.‘ Panisch drehte ich mich im Kreis und brüllte: „Ja, es reicht!“ Im gleichen Moment erschrak ich, denn das Dröhnen und Klopfen hatte augenblicklich aufgehört. Nur meine Stimme hallte durch den Raum, bis auch sie verstummte.
    ‚Okay, also noch mal. Wo. Ist. Deine. Geschichte?‘
    Ängstlich blickte ich zur Tür, zum Fenster und wieder zur Tür. Nichts. War ich jetzt völlig verrückt geworden? Hatte ich zu viele Fantasy-Geschichten gelesen? Ich begann zu zittern und Tränen stiegen mir in die Augen.
    ‚Och Mensch‘, säuselte irgendwas in meinem Ohr. ‚Jetzt stell dich nicht dümmer als du bist, oder soll ich noch mal meinen Kollegen mit dem Presslufthammer bemühen?‘
    „Nein!“, stieß ich entsetzt hervor.
    Bevor ich vollends zusammengebrochen wäre, erlaubte ich mir eine vorsichtige Frage. Im Flüsterton - versteht sich. „Wer zum Geier spricht da?“
    ‚Als wenn du das nicht wüsstest‘, bekam ich postwendend die spöttisch klingende Antwort. Ich wusste gar nichts, oder wollte es mir zumindest nicht eingestehen. Selbstgespräche waren doch was für alte Leute, oder für psychisch gestörte. Dennoch sah ich mich hektisch um, nur um sicher zu gehen, dass ich noch allein in der Wohnung war, und wisperte kaum hörbar:
    „Wenn du ein Geist bist, dann zeig dich. Und was willst du überhaupt von mir?“ Mein ganzer Körper bebte.
    ‚Ein Geist!‘ Höhnisches Gelächter durchflutete mich. ‚ Also wenn ich ein Geist bin, müsstest du auch einer sein.‘ Das Gelächter wandelte sich in brummiges Stöhnen. ‚Du bist doch schwierige als ich dachte - und das passiert ausgerechnet mir, wo ich doch den ganzen Tag denke.‘ Langsam wurde mir schwindelig. Das Geschwätz in meinem Kopf störte sich jedoch nicht daran. ‚Also noch mal zum mitschreiben ... mitschreiben habe ich gesagt!‘ Auch wenn ich nicht wusste wie mir geschah, schrieb ich.
    ‚Du wolltest eine Geschichte für die Büchereulen schreiben.‘ Instinktiv nickte ich, setzte aber gleichzeitig an, mein Versäumnis zu entschuldigen. Wie dumm.
    ‚Ausreden zwecklos. Schon vergessen, wer ich bin?‘
    „Nein! Du bist das Stück Hirn, das vergessen hat mich rechtzeitig zu erinnern.“ Die Stimme schwieg. Das hatte gesessen. Keine Ahnung, wo plötzlich dieser Sarkasmus herkam. „Ich kann mir jetzt auf die Schnelle jedenfalls keine Story aus den Fingern saugen, außerdem hab’ ich das noch nie gemacht.“
    ‚Schau auf dein Blatt!‘, hörte ich die Stimme leise verebben.
    Ich musste lächeln. „Welch ein Zauber.“

  • von AsterLundgren



    Die Vorstellung war fabelhaft. Weit besser, als Tine sie in Erinnerung gehabt hatte. Von ihrem Platz aus, acht Reihen von der Bühne entfernt, sah Dante fast schon gut aus.
    Die Bühne gehörte nur ihm, ihm und seinen flinken Fingern. So sehr sich die Zuschauer auch anstrengten; die Zaubertricks erriet niemand. Niemand außer Tine: seit acht Jahren machte Dante nun fast ein und dasselbe Programm, die zwei ersten hatte Tine an seiner Seite gestanden. Fast ebenso hübsch wie seine neue Assistentin, deren Lächeln genauso falsch war wie ihr Dekolleté. Immerhin waren zu Tines Zeiten noch die Brüste echt und kein Teil der Zaubertricks gewesen.
    Dantes Glaskasten-Nummer wurde beendet und die nächste angekündigt. Nach dem Stuhl der Verdammnis und dem Glaskasten der Hölle kam die Pistole des Todes. Kreativ war Dante noch nie gewesen.
    Und da kam sie, die Frage, auf die Tine schon seit Beginn der Vorstellung gewartet hatte. Ob jemand auf die Bühne wollte, um dem großen Dante behilflich zu sein. Tine streckte sich als Erste. Sie stand auf und lief, sehr langsam, den Gang entlang und dann die Bühne herauf.


    Dante wandte sich zu Tine um und lächelte. Bis er ihr Gesicht erkannte, hinter den Narben. Das er noch so gut kannte, nur anders.
    Damals, vor sechs Jahren, hatte ihre Zusammenarbeit sehr abrupt geendet. Schuld daran waren die Flammen des Zornes gewesen. Wenn sich Tine heute daran zu erinnern versuchte, fand sie nur noch Bruchstücke, Scherben ihrer Erinnerung. Das Feuer, die Asche auf ihrer Zunge. Dante hatte einen Fehler gemacht und Tine hatte dafür bezahlt. Falsche Knoten, hatte man gesagt.
    Der Vorfall war bald vergessen, nur die Narben, sie blieben. Während Tine im Krankenhaus gelegen hatte, war Dante kein einziges Mal zu Besuch gekommen. Keine Entschuldigung, nur Tankstellenblumen hatte er ihr schicken lassen.
    Dabei war sie so viel mehr als eine Assistentin gewesen. Damals, bei ihren zahlreichen Treffen nach Feierabend, hatte sie ihm verraten, dass sie irgendwann alleine auf der Bühne stehen wollte. Und das sie genauso gut sein würde wie er.
    „Komm schon“, flüsterte Tine ihm zu „die Zuschauer warten.“


    Dante fing sich allmählich, hielt die Pistole weit von sich und bat Tine, damit auf ihn zu schießen.
    Tine nahm die Pistole in die Hand und ließ sie fallen. Sie bückte sich, schien nach der Waffe zu greifen, ließ aber stattdessen eine ähnliche aus dem Ärmel gleiten und schob die richtige mit dem Fuß in die Schatten der Bühne. Niemand sah, was sie getan hatte, niemand außer Dante.
    Einen Moment lang, einen kurzen, überlegte sie, von ihrem Plan abzuweichen. Doch dann sah sie die Todesangst in seinen Augen und das Wissen dahinter. Und mehr brauchte sie nicht, um abzuschließen, um loszukommen.
    Die Kugel verfehlte den Hals des Zauberers nur um ein paar Fingerbreit, bohrte sich in die Wand dahinter. Dante ging in die Knie, schnappte nach Luft, fasste sich an die Kehle, als hoffte er des Effektes wegen, Blut möge zwischen seinen Fingern hervorkommen.
    Als er aufsah und sich umblickte, war die Frau mit dem Narbengesicht verschwunden.

  • von Ushuaia



    „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
    Wer denkt sich denn so einen Schwachsinn als Thema für einen Romanwettbewerb aus? Lena blätterte frustriert durch ihre gesammelten Werke. Ihre Manuskripte, samt der dazugehörigen Ablehnungsschreiben diverser Verlage, füllten inzwischen Regalmeter. Nur nicht übertreiben, dachte sie sofort. Drei Ordner, um genau zu sein. Darin sechseinhalb Manuskripte, hauptsächlich Regionalkrimis, mit Ausnahme des letzten, ein Ausflug ins Reich der Vampire – nicht gerade ihr Ding. Aber einen Versuch war es wert gewesen. Über die Zahl der Ablehnungsschreiben wollte sie nicht meditieren, sie musste sich nun nicht die Laune verderben lassen. Keins der existierenden Manuskripte eignete sich für den Romanwettbewerb der Frauenzeitschrift. So einfach war es mit der Teilnahme also nicht. Sechs Monate bis zum Einsendeschluss waren allerdings etwas knapp, um ohne konkrete Idee ein Manuskript aus dem Boden zu stampfen. Der erste Satz musste her. Dann flutschte es vielleicht mal wieder.


    Und überhaupt, was für ein Zauber sollte jedem Anfang innewohnen? Ihre Oma war kürzlich mit 84 ins Pflegeheim gebracht worden. Also dem Anfang wohnte bestimmt kein Zauber inne. Und bei einer ihrer Freundinnen war ein bösartiger Tumor diagnostiziert worden. Wo war da der Zauber?
    Wobei, sie hatte letztens begonnen Tai Chi zu lernen, und das hatte am Anfang tatsächlich einen Zauber gehabt. Es hatte nämlich ihre Verspannungen im Kreuz gelöst. Allerdings auch nur am Anfang.
    Ob sie das Thema wohl missverstand? Oder zu wörtlich nahm?
    Das musste es sein.
    Gelangweilt gab sie den Satz in eine Internet-Suchmaschine ein. „Hesse“ sprang es ihr da entgegen. Der Satz entstammte einem Gedicht von Hermann Hesse. Peinlich, dabei hatte sie in ihrer Jugend doch Hesse geliebt. Siddharta. Demian. Das Glasperlenspiel. Rauf und runter gelesen. Sie hatte ihren Hesse verehrt, sich von ihm beeindrucken lassen, erfüllt von jugendlichen Idealen, unbeleckt vom Leben, die Welt und das Leben vor ihr liegend, hatte sie mit glühenden Wangen die Hesses Werke verschlungen.
    Jung und naiv eben.
    Und dem Anfang hatte wohl ein Zauber innegewohnt. Bis zur ersten Bruchlandung, als sie erkannte, dass sie sich für den falschen Studiengang eingeschrieben hatte. Die nächste Bruchlandung hatte einen Namen. Oliver. Aber gut. Rechtzeitig erkannt, Schlimmeres verhütet. Wobei das mit dem „verhütet“ danach bei Thomas nicht geklappt hatte. Ein Gedanke, der ihr wie immer den Magen zusammenzog. Baby Leon da, Freund Thomas weg.
    „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, nein, das konnte nur ein unverbesserlicher Optimist sagen. Ihr Blick fiel auf die letzte Zeile des Bildschirms. Das Gedicht war auch noch von Josef Knecht aus dem „Glasperlenspiel“. Aber gut, wer konnte behaupten, das „Glasperlenspiel“ ganz gelesen zu haben?


    „Frau Friedrich“, riss eine Stimme sie aus ihren Tagträumen. „Was kosten denn die neuen Kondome?“
    „Wie, was?“ Lena schreckte auf. Sie waren gerade dabei die Regale aufzufüllen, 400 Euro-Job im Drogeriemarkt, von Hartz IV alleine konnte man als Alleinerziehende nicht leben.
    „8,99“, murmelte sie müde und betrachtete die quietschbunte Packung.
    Mit einem geplatzten Kondom hatte alles begonnen.
    Sie blinzelte. Da hatte sie ihren Romananfang.
    Wie war das noch mit dem Zauber?
    Sie war bereit.

  • von churchill



    Schreie eines kurz verlassnen Kindes.
    Der Griff nach Mamas Hand vorm Klassenzimmer.
    Das Poster an der Tür des grauen Spindes.
    Es geht nicht weg. Es bleibt. Es wird noch schlimmer …


    Der Blick aus ihren grünen falschen Augen,
    als sie nach Jahren mir die Liebe kündet,
    die Beine, die doch nur zum Fliehen taugen,
    wenn Abschied sich mit Neubeginn verbündet.


    Den Berg, der sich erhebt vor meinen Füßen,
    ich will und kann ihn wieder nicht besteigen.
    Den Gipfel muss ich mit dem Hintern grüßen
    und jedem Anspruch meine Fersen zeigen.


    Wenn sie nach vorn marschieren, bleib ich stehen.
    Im besten Fall. Doch meistens sitz ich träge.
    Sie soll’n verschwinden! Sollen alle gehen!
    Als ob die Welt in meinen Händen läge …


    In meiner Hand liegt Dreck. Liegt nichts als Asche.
    Und nie wird mehr als Asche mir entspringen.
    Ich lieg im Bett und vielen auf der Tasche
    Kenn nur das Lied der Angst. Und kanns nicht singen.


    Die Kehle ist verschnürt. Das Wort gefangen.
    Die Melodie ist tot. Und ich vergesse.
    Bin schleichend Schritt für Schritt so schwer gegangen.
    Und ihr springt munter aufwärts und lest Hesse.


    Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten
    und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne?
    Lasst mich in Ruh. Ich will den Blick nicht weiten.
    Fangt ihr doch an! Ich nicht. In diesem Sinne …

  • von Johanna



    Er war am Ende.
    Hatte es nicht glauben, nicht ertragen können. Nicht wahrhaben, dass Liebe vergehen kann.
    Doch nicht nach so langer Zeit, gemeinsamer Zeit, einem gemeinsamen Leben, nach all der gemeinsam verbrachten Zeit.
    Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein.
    Doch die Wohnung war leer, verlassen, nur die Stille war ihm geblieben, kein Kinderlärm mehr, keine sonntäglichen Diskussionen, keine gewohnten Geräusche.
    Stille.


    Leere
    Leere in seinem Kopf
    Nichts, Taubheit, Unfassbarkeit, nicht verstehen können.



    Keine Erinnerung mehr an den Augenblick, an dem er die Brücke ansteuerte.
    Keine Erinnerung mehr an das was passierte bevor er erwachte. Erwachte mit Schläuchen am Körper, Gips an Beinen und Armen.
    Nur Schmerzen, Schmerzen überall, im Körper, im Inneren.


    Er wollte es nicht mehr, aber es war noch da auch wenn er es nicht mehr spürte.
    Das Leben, sein Leben.
    Konnte nicht glauben, dass es sich ändern würde, dass es ihn je wieder ausfüllen sollte. Wie sollte es? So allein, verlassen. Wo war der Sinn? Wo war sein Inhalt?



    Aber das Leben ist stark, lässt sich nicht so leicht unterdrücken.
    Zeit kam, Menschen, Menschen die zuhörten, Menschen die redeten, Menschen die ihm Halt und Vertrauen schenkten.
    Seine Knochen heilten, wuchsen zusammen.
    Seine Kraft, eine, die er zuvor nie kannte, erstarkte, wurde größer als sie es je war.
    Er wuchs, wuchs über sich hinaus durch den tiefen Fall in ungeahnte Höhen.
    Die Leere, Seine Leere füllte sich, füllte sich durch ihn selbst.


    Heute war es soweit, das Leben hatte ihn endgültig wieder, die Leere gab es nicht mehr, sein Kopf war voll, erfüllt von Eindrücken, Gefühlen, voll von lebenswerten Gedanken.
    Die Zeit der Traurigkeit war vorbei, gewichen einer neuen Zeit. Einer Zeit der Zuversicht, der Hoffnung, des Neuen.
    Da stand Sie, sein Beginn, sein neuer Anfang. Der Anfang, der für ihn der größte Zauber war, an den er nicht mehr hatte glauben können.
    Er war der glücklichste Mensch der Welt.