carla Guelfenbein - Der Rest ist Schweigen

  • Inhalt:
    Das Wort trifft den kleinen Tommy wie ein Schlag, als er bei einem Familienfest unter dem Tisch hockt und lauscht: Selbstmord. Seine geliebte Mutter hat ihn freiwillig verlassen. Während der zarte Junge sich auf die Suche nach der verschwiegenen Wahrheit macht, ringen sein Vater, der arrivierte Chirurg, und dessen zweite Frau Alma ihrerseits mit all dem Unsagbaren, Ungesagten, an dem sie fast zu ersticken drohen. Wie Planeten mit einem heißen Kern aus Sehnsucht kreisen Tommy, Juan und Alma umeinander und bleiben sich auf ihren Umlaufbahnen doch fern. Erst als das Leben brutal dazwischenfährt, scheint so etwas wie Nähe wieder möglich – doch der Preis ist hoch.
    Carla Guelfenbein macht ihren Figuren ein Geschenk: sie lässt sie reden, von sich und denen, die sie lieben. In wechselnden Stimmen entfaltet sich so das Drama einer modernen Familie – bestürzend in seiner Unausweichlichkeit, aber auch voller Zärtlichkeit und Hoffnung. (Quelle: Fischerverlage)


    Die Autorin:
    Carla Guelfenbein wurde 1959 in Santiago de Chile geboren. Mit siebzehn Jahren verließ sie Chile zusammen mit ihrer Familie, weil diese in Opposition zum Regime Pinochets zunehmend unter Druck geriet. Im englischen Exil studierte Carla Guelfenbein Biologie und Design. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. Nach dem weltweiten Bestseller ›Die Frau unseres Lebens‹ ist ›Der Rest
    ist Schweigen‹ ihr dritter Roman. (Quelle: Fischerverlage)


    Originaltitel: El resto es silencio
    336 Seiten
    S. Fischer Verlag
    ISBN 978-3-10-027822-7
    Aus dem Spanischen von Svenja Becker



    Meine Meinung:
    Der Roman beginnt unter dem Tisch: Der herzkranke 12-jährige Tommy nimmt mithilfe eines Mp3-Players die Gespräche der Erwachsenen auf. Dabei erfährt er ein gut gehütetes Familiengeheimnis: Seine Mutter soll Selbstmord begangen haben.
    Diese Erkenntnis verunsichert ihn zutiefst und er beschließt, 10 Dinge über seine Mutter herauszufinden.
    Sein Vater Juan, ein bekannter Chirurg und seine zweite Frau Alma haben jedoch genügend eigene Probleme, um Tommy wirklich zuzuhören.
    Während Juan beruflich stark eingebunden ist, sich um einen schwerkranken Jungen kümmert, stürzt sich Alma in eine Liebesaffäre, um so die immer größer werdende Distanz zwischen ihr und Juan zu überbrücken. Dabei bleibt Tommy alleine mit seinen Problemen, die auch schulischer Art sind -denn dort wird er gemobbt.
    Carla Guelfenbein beschreibt sehr eindringlich und einfühlsam die Sprachlosigkeit zwischen drei Menschen, die zwar eine Familie sind, dennoch nicht wirklich miteinander reden, vieles bleibt ungesagt. Jeder ist für sich einsam, auch wenn sie sich lieben.
    Trotz wechselnder Erzählperspektive - es gibt drei Ich-Erzähler (Juan, Alma, Tommy) gelingt es dem Leser, der Handlung zu folgen - drei dem jeweiligen Erzähler zugeordnete Symbole sind dabei behilflich.
    Der Roman hat mich sehr beeindruckt und hallt noch immer nach.


    10 Eulen

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Danke für deine schöne Rezi - das Buch liegt bei mir schon auf dem SUB und dank dieser positiven Rezension werde ich es sicher in nächster Zeit in Angriff nehmen. :wave

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

  • Ich hab mir das Buch auch neulich gekauft, aber noch nicht gelesen. Ich freue mcih aber schon sehr darauf.


    Ich hatte es aufgrund eines Christine-Westermann-Radio-Beitrags auf meinen Wunschzettel gepackt und deine Rezi verspricht ähnlich gutes. Danke!

  • auch bei mir liegt es seit der begeisterten Rezension von Christine Westermann auf dem SUB, und deine Rezension führt mir gerade vor Augen, dass es dort zu Unrecht liegt...




    ....weil ich es endlich lesen sollte!

  • Ich habe das Buch heute Nachmittag fertig gelesen, bin aber im Moment erstmal nur in der Lage es mit 10 Punkten zu bewerten.


    Ich habe keine Ahnung, ob ich jemals in der Lage bin überhaupt eine Art Rezension über dieses Buch zu schreiben, ohne zu viel vom Inhalt zu verraten oder zu beschreiben wie tief mich dieses Buch bewegt. Ich bin mehr als beeindruckt, sowohl durch seine Erzählweise als auch vom Inhalt. Ich finde dafür im Moment nicht die richtigen Worte, kann und möchte es aber empfehlen, absolut und vorbehaltlos.


    Das ist so ein Buch, bei dem ich hinterher nie weiß, welches Buch ich als nächstes in die Hand nehmen und lesen soll. Vielleicht sollte ich erstmal eine Nacht darüber schlafen...

  • Der Rest ist Schweigen – Carla Guelfenbein


    Mein Eindruck:
    Die chilenische Autorin Carla Guelfenbein setzt auf sehr überzeugende Weise drei Erzähler ein. Drei Hauptfiguren, drei Perspektiven, die alle eng miteinander verknüpft sind. Auch die Ausgangsposition ist interessant angelegt. Der junge Tommy hört auf einer Familienfeier zufällig davon, dass sich seine Mutter umgebracht hatte. Der gesundheitlich labile Junge ist von der Nachricht dieses Suizid natürlich schockiert, ihm wurde immer von einem tödlichen Unfall seiner Mutter erzählt.


    Dieser Moment der unfreiwilligen Erkenntnis bewirkt den Impuls, alles in Frage zu stellen. Dazu gehört auch das Familienleben mit seinem Vater Juan, ein viel beschäftigter Arzt, und seiner Stiefmutter Alma, die sich zwar liebevoll um Tommy kümmert, jedoch nie die Mutter ersetzte. Juan und Alma haben außerdem auch massive Eheprobleme, Alma hat heimlich eine Affäre.


    Auf den kommenden Seiten leben die 3 Hauptfiguren an einem kritischen Wendepunkt und die Spannung des Romans ergibt sich daraus, wohin sich das Schicksal der Familie wenden wird.


    Es gibt aber auch einige, wenige Einwände gegen den Roman. Der Erzählton schwankt häufig bedrohlich zwischen Melancholie und Sentimentalität. Ab einer gewissen Handlungsentwicklung geht der Roman dann leider nicht mehr unter die Oberfläche. Dazu passt dann auch, dass jegliche politischen Einflüsse ausgeblendet werden.


    Obwohl das Buch aufgrund dieser Elemente manchmal zu kippen scheint, schafft der Roman dann doch durch eine starke, intensive Dichte mit viel Atmosphäre zu überzeugen. Durch die Erzählweise sind die Leser dicht an den Figuren dran, an ihren inneren Gedanken und Emotionen beteiligt, deswegen bleiben sie einen nicht gleichgültig. Man folgt der Handlung mit viel Spannung und Interesse!

  • Tommy war schon immer ein Sorgenkind. Wegen seiner schweren Herzkrankheit ist er deutlich kleiner als seine Altersgenossen und wurde bisher übermäßig behütet. Der Zwölfjährige hat seine Krankheit überstanden, wird jedoch nie ein normales Leben führen können. Rein äußerlich zeigt sich das daran, dass es in der Alters-Hierarchie seiner Cousins und seiner Mitschüler keinen Platz für ein besonderes Kind gibt. Vermutlich aus falscher Rücksicht sind Tommy die wichtigsten Dinge verschwiegen worden: dass er Jude ist und wie seine Mutter ums Leben kam. Als er durch ein belauschtes Gespräch der Erwachsenen mit der Realität konfrontiert wird, setzt Tommy nichtsahnend eine verhängnisvolle Entwicklung in Gang. Vater Juan, ein prominenter chilenischer Herzchirurg, hat die Sorge um Tommy an seine zweite Frau Alma und das Kindermädchen delegiert und erfährt erst viel zu spät von den Vorgängen in seinem Haushalt.


    Tommy, sein Vater Juan und Alma erzählen in der Ichform jeder aus seiner Perspektive und zum großen Teil im Präsenz. Durch die Erzählform wirkt die Sprache sehr schlicht, bildet jedoch die Beziehungen in dieser ungewöhlichen Familie beeindruckend atmosphärisch ab. Tommys rechnerisches Alter kontrastiert in krasser Weise mit seiner kindlichen Sprache und seinem magischen Denken eines viel jüngeren Kindes, mit dem er seine Angst vor dem Verlassenwerden zu beherrschen sucht. Alma und Juan klammern sich wie Schiffbrüchige an eine Vernunftbeziehung, die die Versorgung von Tommy und Almas Tochter aus einer vorhergehenden Beziehung sichern soll.


    Guelfenbeins Roman wirkt auf mich besonders eindringlich durch die drei sehr unterschiedlichen Erzählerpersönlichkeiten und den Kontrast zwischen bedrückenden Ereignissen und der vordergründig einfach wirkenden Sprache, in der sie erzählt werden.


    8 von 10 Punkten