Feuernacht - Yrsa Sigurdardottir

  • Hach, das war endlich mal wieder ein Islandkrimi, den ich uneingeschränkt genießen konnte (mein übliches Mantra, Cover und Titel betreffend, wiederhole ich an dieser Stelle ausnahmsweise mal nicht, auch wenn es angebracht wäre).


    Dóra, Rechtsanwältin aus Reykjavìk, erhält ein ungewöhnliches Mandat: der verurteilte Kinderschänder Jósteinn beauftragt sie, den Fall seines Mitinsassen Jacob wiederaufzurollen. Der junge Mann mit Downsyndrom soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem zahlreiche Mitbewohner und ein Wärter ums Leben kamen. Schnell wird klar, dass dieser Fall schludrig abgehandelt worden war, die Vernehmung Jacobs angesichts seiner Behinderung eine Farce und die Auswertung der Beweise nachlässig. Neben Schweigen und Lügen der Befragten, erschwert mal wieder Dóras private Situation ihre Ermittlungen: Zwar lebt ihr deutscher Freund Matthias nun bei ihr in Ísland, doch hat er im Zuge der Finanzkrise seinen Job bei der Bank verloren und ihre Eltern mussten aufgrund fehlgeschlagener Immobilienspekulationen in ihrer Garage einziehen.
    Doch mit einer gesunden Portion Pragmatismus ausgestattet, begibt sich Dóra in die Niederungen des isländischen Sozialsystems und kommt, anders als in vielen anderen isländischen Kriminalromanen, zwar nicht einem unglaublichen Verbrechen auf höchster Ebene der Politik auf die Spur, aber doch einer Geschichte, in die Menschen verschiedenster Gesellschaftsschichten verwickelt sind.


    Dieser Krimi ist ein klassischer Whodunnit, jede Menge verdächtiger Personen bevölkern diesen Roman. Die Geschichte ist originell und gut entwickelt, die Protagonisten glaubwürdig, der gesellschaftliche Hintergrund, Island vor dem finanziellen Ruin, lebendig und unaufdringllich in die Geschichte eingebunden. Auch sprachlich gibt es nichts zu motzen, locker, teilweise witzig, aber keineswegs flach ist die Geschichte erzählt. Ich würde mal vorsichtig behaupten, dass dies eines der besten Bücher Sigurdardóttirs ist.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Ich habe seit Indridasons 'Nordermoor' keinen Krimi aus Island gelesen, aber Sigurdadottir hat mich wieder neugierig werden lassen.


    Für einen Krimi fand ich es sehr umfangreich. Das hat mich zunächst erschreckt. Es ist aber so gut geschrieben und die Teile der Handlung sind so gut miteinander verknüpft, daß man den Umfang kaum merkt. Es war mein erstes Buch aus dieser Reihe um Dóra. Man hat keinerlei Verständnisprobleme, ihre Familienverhältnisse zu verstehen und einzuordnen, um so weniger, als sie - das empfand ich als Segen - nicht im Mittelpunkt stehen.


    Im Mittelpunkt steht der Kriminalfall. Und eben der wird in aller Ruhe, aber sehr spannend aufgedröselt.
    Der Dreh dabei ist, daß die Leserin zwar von Anfang an weiß, daß es noch einen zweiten Kriminalfall gibt, sie sich aber dank des Geschicks der Autorin nicht zusammenreimen kann, ob und wie diese zweite, eher kleine Geschichte mit dem Fall zusammengehört, um den sich Dóra kümmern muß.


    Geschickt ist die Autorin auch darin, eine beträchtliche Zahl von Personen auftreten und agieren zu lassen. Man sieht sie mit Dóras Augen, die ihrerseits eine aufmerksame, aber keineswegs neutrale Beobachterin ist. Sie reagiert ziemlich spontan mit Vorlieben und Abneigungen.
    Da ein zentrales Thema des Buchs der Umgang mit geistig und körperlich zum Teil Schwerstbehinderten ist, enthält Dóras Blick einiges an Zündstoff und ist durchaus geeignet, eigene Vorurteile an den Tag zu bringen.


    Island, das ich gar nicht kenne, kam mir beim Lesen nicht besonders fremd vor, was für das Talent Sigurdardottirs spricht, ihre Welt so überzeugend darzustellen, daß sie auf Anhieb vertraut wirkt. Die Informationen über die aktuelle ökonomische Lage und das Sozialsystem, die quasi nebenbei einfließen, machen das Ganze zusätzlich interessant.


    Die Frage nach Jacobs Schuld oder Unschuld entpuppt sich als äußerst spannende Jagd, mit einigen sehr unerwarteten Wendungen, die man, sobald man wieder bei Atem ist, als tatsächlich logisch erkennt. Das erhöht im Nachhinein das Vergnügen noch, das man mit diesem Krimi hat. Wie Sigurdadottir am Ende den Knoten schürzt, verdient volle Abnerkennung.


    Ein Hinweis nur: wer Probleme mit Geistergeschichten hat, möge bei diesem Krimi Vorsicht walten lassen. Er ist nicht nur in puncto Sozialpolitik und der Zeichnung der dunklen Seiten von Menschen gruselig.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Mich konnte die Reihe um die Anwältin Dora bislang überzeugen und so habe ich auch diesen Band mit Genuss gelesen.
    Da ich selbst im Behindertenbereich gearbeitet habe und mir das Setting nicht unbekannt ist, war die Lektüre besonders spannend für mich.


    Zitat

    Origignal von magali:
    Da ein zentrales Thema des Buchs der Umgang mit geistig und körperlich zum Teil Schwerstbehinderten ist, enthält Dóras Blick einiges an Zündstoff und ist durchaus geeignet, eigene Vorurteile an den Tag zu bringen.


    :write



    Was mir gefällt (Doras Art, die Tatsache, daß sie als Anwältin eine andere Heransgehensweise als z.B. die Polizei hat, Island als Schauplatz, welches gleichzeitig bekannt und fremd wirkt und welches die Geschichte und ihre handelnden Personen unauffällig trägt, die mystische Komponente, die aber jedes Mal so unaufdringlich ist, daß es dem Leser überlassen bleibt, ob er sich darauf einlassen will oder nicht etc) hat die Autorin beibehalten und gleichzeitig scheint sie sich noch gesteigert und auch vom Schreibstil her weiterentwickelt zu haben. Und so würde ich (obwohl ich mir Vergleiche zu den anderen Bänden eigentlich verkneifen wollte) DraperDoyle in ihrer vorsichtigen Einschätzung diesbezüglich zustimmen.

    Ich weiß nicht, was das sein mag, das ewige Leben.
    Aber dieses hier, das diesseitige, ist ein schlechter Scherz. (Voltaire)

  • Mein drittes Buch der Autorin, aber das erste rund um die Anwältin Dóra.
    Was für schöne Aussichten, dass ich noch ein paar ihrer Bücher vor mir habe!!


    Schon nach den ersten paar Seiten war ich von der Geschichte gefesselt, aber hatte auch ein wenig Gänsehaut. Wer ein wenig mysteriöse Krimis mit einem hauch Geistergeschichte mag, ist hier bestens bedient. Ich liebe dieses Thema!!


    Die Anwältin Dóra und ihr Freund sind ein gutes Team. Die Thematik rund um Jacob mit dem Down Syndrom ist gut gewählt, zeitgemäss und bietet viel Diskussionsstoff.
    Eine Geschichte die spannend bis zur letzten Seite bleibt.


    Wie immer bei der Autorin, findet sich kurz vor Schluss noch einmal ein richtig gruseliger Hinweis, der die Geschichte weiterleben lässt.