Pretting, Gerhard/Boote Werner - Plastic Planet: Die dunkle Seite der Kunststoffe

  • Werner Boote und Gerhard Pretting Plastic Planet: Die Dunkle Seite der Kunststoffe


    Jetzt hätt ich beim Untertitel fast geschrieben: Die dunkle Seite der Macht, und vielleicht war's von den Autoren auch so gedacht.


    DAS BUCH


    Es ist sehr schwer ein Buch zu beschreiben, das schon mal hier nirgends in eine Rubrik passt.


    Geht es um Börse/Geld/Wirtschaft/Buisiness/Karrieren? Ja, es geht um den wichtigsten und erfolgreichsten Wirtschaftszweig unserer Zeit.
    Ist es Kochen&Lifestyle? Yepp, unser Kochen, Essen und Lifestyle steht zur Diskussion.
    Ist es Kulturwissenschaft? Ja, es geht um die Entwicklung unserer Kultur im letzten Jahrhundert.
    Ist es ein Filmbuch? Ja, es gibt einen Film dazu, es ist das Buch zum Film.
    Ist es zum Lernen und Nachschlagen? Ja, wenn man in Chemie geschlafen hat, lernt man eindeutig was dazu, und es gibt ein Laienglossar für die von den PXYZ's hoffnungslos Verwirrten.
    Ist es Naturwissenschaft und Technik? Ja, die kommt zwangsläufig drin als Hauptakteur vor.
    Ist es ein Ratgeber? Ja, es hilft Recycling-Formeln zu lesen, und lehrt sorgsameren Umgang mit seinem Müll - am Besten, bevor er entsteht.
    Ist es Reise und Sport? Für die Autoren war es beides: vom pazifischen Müllstrudel, den chinesischen Fabriken, japanischen Supermärkten, europäischen Industrieveranstaltungen bis zu den indischen Müllhalden - und danach zwangsweise in die Vergiftungsstationen von Krankenhäusern.
    Kann man es unter Religion und Esoterik einordnen? Ahhh... Nein, es sei denn, man ist ein Manager oder Betreiber einer Plastikfirma, der Kritik am System automatisch Ökolinken Spinnern und Heile-Welt-Esoterikern zuordnet. (Ein simpler Bluttest der betroffenen Leugner dürfte hingegen jegliche Zweifel am handfesten Wahrheitsgehalt der Materie ausmerzen)


    Weil das nun alles ein bisschen stimmt, kommts in den allgemeinen Sachbuch-Thread.


    Wesentlich für den Leser ist, dass es leicht zu lesen ist, und sich eigentlich in ein bis zwei Tagen wegputzt, ohne jetzt ein großer Wissenschafter zu sein.


    Es ist das Buch zum Film: http://www.plastic-planet.at/


    Zum daraus folgenden Experiment: http://www.keinheimfuerplastik.at/



    DIE AUTOREN
    Der Filmemacher Werner Boote ist Enkel eines österreichischen Plastik-Industriepioniers. Als er in den 70ern das erste mal von geschlechtsumgewandelten, unfruchtbaren Fischen in Gewässern bei plastikerzeugenden Betrieben las, hielt er es für ein unterhaltsames Kuriosum, und er begann dahingehende Hysteriker-Artikel zu sammeln, aber die Artikel häuften sich, daraus wurde ein Dokumentarfilm.


    Gerhard Pretting ist der Kulturwissenschafter, Journalist, Feature- und Feuilletonautor im Standard, brand eins, sowie auf Ö1, der dem ganzen eine lesbare Form gab, und für Hintergrundrecherchen und Textflüssigkeit verantwortlich zeichnet.


    Meine Meinung:



    Es gibt Bücher, die wichtig sind. Die so wichtig sind, dass man gar nicht darüber diskutieren sollte, ob man sie lesen oder nicht lesen soll.
    Es geht schliesslich um das weltgrösste Life-Experiment mit uns allen als Teilnehmern, und keiner kann ihm entkommen.


    Ich sag jetzt nicht, lest das. Ich sag nur, wer es nicht liest, ist selber schuld, denn er verpasst nicht nur ein wunderbares, flüssiges und leicht lesbares Buch, sondern auch eine Chance sein Leben und seinen Konsum zu überdenken - und letztendes eventuell seine Lebensqualität und Gesundheit zu verbessern und Krankheitsrisiken zu minimieren, soweit es möglich ist, bei sich selbst und seinen Nachkommen, oder er erhält zumindest eine mögliche Erklärung dafür, warum er keine bekommen kann, oder warum sie bereits krank sind.


    Natürlich gibt es Texte zum Thema, die aktueller sind. Natürlich gibt es Texte zum Thema, die näher an der Quelle des Übels, des Heils liegen, und alles viel genauer und begründeter erklären, warum und warum nicht bedenklich. Aber nicht jeder kann Fachmann sein, oder selbige auch nur verstehen. Nicht jedem sagen diese Links etwas, die unsere Regierungen zu unserem Schutz und zur Bewusstseinsbildung und zum Forschungsaufruf veröffentlichten:
    http://echa.europa.eu/consulta…vhc/svhc_prev_cons_en.asp
    http://echa.europa.eu/consulta…ion/svhc/svhc_cons_en.asp
    http://www.reach-info.de/kandidatenliste.htm
    Die EU hat ein Gesetz beschlossen, das Zeichnungspflicht für Verpackungsmaterialien und deren eventuell in Lebensmittel migrierende Inhaltsstoffe vorsieht und 2018 in Kraft treten soll, aber wahrscheinlich nicht nur wegen Plastikhersteller-lobbying als unrealistisch verworfen werden wird. Denn niemand schützt angesichts von 30Mio bekannten aber nicht auf ihre Toxizität untersuchten Verbindungen den Konsumenten. Von den geplanten 30.000 teilweise bereits seit Jahrzehnten in Verwendung befindlichen und noch zu untersuchenden Stoffen sind seit 1981 grad mal 3.500 neue untersucht.
    Der Konsument muss sich letzendlich selber schützen, entscheiden, welchem Kunststoff er vertraut und welchem er nicht vertraut. Oder ob er ihn überhaupt haben will, oder ob es nicht vielleicht ohne geht.


    Dass wir nicht auf Politik und Industrie warten dürfen, sollte jedem klar sein: PVC - das in ihm enthaltene VC ist schon seit den 1960'ern als schwer toxisch und krebserregend bekannt, obwohl von den Herstellern gesponsorte Untersuchungen noch in den 80ern zum Schluss kamen, es sei alles halb so wild. Erst seit 1999 ist es in Europa in Kleinkinderspielzeug verboten.
    - MERKE: in Europa in Kleinkinderspielzeug - das betrifft noch lang nicht die fernöstlich-erzeugten bezeichnungslosen Containerwaren aus anonymen Kunststoffmischungen für ältere Kinder und Erwachsene. Das Kleinkind, das an der Werkzeugkiste den Schraubenschlüssel holt, und am weichen Material nuckelt, ist nicht inclusive. Das betrifft nicht den Gartenhandschuh mit dem man sein Biogemüse erntet. Der weiche Überzug auf der Computermaus aus Taiwan oder das Mousepad ist auch nicht in der Rechnung. - Und das VC war nur EIN bedenklicher Stoff.


    Erdölindustrie ist tatsächlich ein Segen, Kunststoff vor allem - was täten wir ohne Kunststoffe? - Keine Frage: 'modernes' Leben wäre ohne sie unmöglich.


    Wen interessieren schon Puppen, Kuscheldecken, Babyfläschchen und Lego und Filzstifthüllen? Uninteressant, passée. Sooviel Plastik haben wir eh nicht im Haus... - Wirklich?
    Ich sag Autos, Böden, Kabelisolierung, Werkzeuggriffe, Arbeitshandschuhe, Montageschaum, Isoliermatten, Wärmedämmziegel, Styropor, Putzschwämme. Ich sag Lacke, Farbstoffe und Lösungsmittel, Lackrollen, Plastikpinsel, Polstermöbel, Matratzen.
    Ich sag Kleidung, Stoffe, Spielbälle, Luftballons, weiche Griffe und elastische Schuhsolen, Plastikflaschen, Joghurtbecher, cooler dreieckiger Teebeutel, Plastikgabel, Tupperware, Lebensmittelschachteln, Frischhaltefolien, Fernseher samt DVD's, Computer, CD's, I-Pod samt Kopfhörer.
    Ich sag Kosmetika - und es geht nicht nur um die Verkaufstiegel und Flaschen, es ist der Inhalt: Deodorants, Parfums, Nagellacke -


    Als Eule sag ich auch als Letztes und Allerwichtigstes: Bucheinbände.
    :wow


    Aber dasda hat keine Folierung:

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

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  • Eine ziemlich überzeugende Rezi. Hab das Buch gleich mal für die Bücherei bestellt, danke :wave

    :lesend
    Rachel Aaron - The Spirit Rebellion
    Patrick Rothfuss - Der Name des Windes
    Stefan Zweig - Sternstunden der Menschheit

  • Zehn Punkte von mir. Ein Leseereigniss, besorginserregend und wütend machend.


    :wave

    :lesend Jonathan Tropper - Sieben verdammt lange Tage


    Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.
    Albert Einstein

  • „Das Buch zum Film“, da war ich erst mal skeptisch, stellte ich es mir doch ziemlich schwierig vor, ein Medium, das primär auf Bildsprache setzt, in einen lesbaren Text umzuwandeln, der doch ganz anderen dramaturgischen Regeln folgt. Ich wurde eines Besseren belehrt.


    Das Buch beginnt mit einer sehr kurzweiligen Einführung in die Geschichte der Kunststoffforschung, erzählt, wie munter drauflos experimentiert wurde und dann, so die Ergebnisse nicht vollkommen unbrauchbar waren, händeringend nach einer geeigneten Anwendung für den soeben erfundenen Kunststoff gesucht wurde. Erfolgreich, ist doch Plastik aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Diese kleine Kulturgeschichte des Plastiks ist ausgesprochen kurzweilig und interessant.


    Im zweiten Teil des Buches wird es dann schon weniger amüsant, werden hier doch die negativen Auswirkungen der Plastikflut auf Mensch und Umwelt erläutert. Wohltuend unaufgeregt, dafür aber umso überzeugender, schildern die Autoren nicht nur, wie verheerend sich die Entsorgung der Unmengen Plastikmüll im Meer, auf Deponien (dabei bleiben auch die mafiösen Strukturen, die mit der illegalen Abfallentsorgung ein einträgliches Geschäftsfeld erschlossen haben, nicht unerwähnt) und in Müllverbrennungsanlagen auswirken, sondern auch, wie wir uns jeden Tag mit der Nutzung von Dingen, vor allem Verpackungen, aus Plastik, selbst vergiften. Auch dieser Abschnitt ist vollkommen unhysterisch, zeigt aber, in welch dramatischem Ausmaß Menschen durch Kunststoffzusatzstoffe belastet sind, und welche gesundheitliche Folgen diese Belastung haben kann.


    Im letzten Abschnitt nun werden Auswege aus dem „Plastic Planet“ andiskutiert, von Biokunststoffen, über echtes Recycling (im Gegensatz zum Downcycling) und Plastik-Vermeidungsstrategien.


    Zum Schluss gibt Werner Boote noch ein paar Einblicke in das "Making Of" des Filmes.


    Alles in allem ist dies ein ausgesprochen informatives Buch, keineswegs trocken sondern sehr ansprechend geschrieben, das Plastik u.a. unter toxikologischen, ökologischen und gesellschaftspolitischen Aspekten betrachtet. Und die Autoren geben sich dabei keineswegs der Illusion hin, das Plastikrad zurückdrehen zu können, sie fordern auch keine Askese, geben aber durchaus Denkanstöße, um Plastik einmal unter ganz neuen Blickwinkeln zu betrachten. Auch wenn ich den Film noch nicht gesehen habe, würde ich behaupten die Umsetzung des „Buches zum Film“ ist in diesem Fall wirklich gelungen.


    Ach ja, und ein ausführliches Glossar gibt's auch noch.


    Ups, da hab ich wohl mal wieder gepennt, danke fürs zusammenbasteln!

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

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