Thomas Glavinic: Lisa

  • Bin gleich zurück


    Als ich die ersten Seiten las, dachte ich: Jetzt dreht der Glavinic völlig ab. Vielleicht hat ihm der Verlag völlig freie Hand gelassen, nahm ich an, und der österreichische Schriftsteller hat irgendein Manuskript aus der Schublade gezogen - literarisches Experiment, das Ergebnis einer rotweinseligen Gehirnstürmrunde, diese Kategorie. Warum sonst sollte man auf die Idee kommen, den Monolog eines vermeintlichen Paranoikers aufzuschreiben - und zu veröffentlichen -, der auf einer abgelegenen bayerischen Alm im modrigen Ferienhaus hockt und per Internetradio zu vermutlich niemandem spricht?


    Aber nach diesen ersten Seiten entfaltete der Roman „Lisa“ plötzlich seine unheimliche Kraft, seinen enormen Witz, seine nicht immer leise Weisheit - und zog mich hinein in die Welt von Tom, dem Spieleprogrammierer, der zusammen mit seinem Sohn Alex in die Walachei geflüchtet ist, wo er des Nachts kokst, säuft und in ein Mikrofon mit Wackelkontakt spricht. Tom erzählt sein Leben, redet über Gott und die Welt, selten politisch korrekt, dafür immer umso entlarvender, schonungsloser, wahrer, lustiger. Er berichtet auch von den Ursachen für seine Eremitage. Bei Tom ist eingebrochen worden, und durch einen Zufall wurden auch in seiner Wohnung die Genspuren jenes weiblichen Phantoms gefunden, das er und die Chefermittler Hilpert „Lisa“ nennen - eine nie gesehene Frau, die eine Spur von Tod und Verwüstung, maßlosem Grauen und außerdentlicher Brutalität durch die Welt zieht, schon seit Jahren, die aber auch bei so merkwürdigen Straftaten wie dem Raub einer Zementladung und eben dem Einbruch in Toms Wohnung beteiligt zu sein schien.


    „Lisa“ ist ein einerseits Buch über Ehrlichkeit, weil es in den Randanekdoten um die vielen kleinen und großen Lügen geht, mit denen Menschen ihr Leben ausstatten, um simple Erkenntnisse, die sich niemand auszusprechen traut, um Drogen, Freundschaft, das Verhältnis von Mann und Frau, aber auch Hundekot, linksredende Rechtsdenker, Generationenphänomene und so weiter. Andererseits erzählt dieser großartige Roman jene Kriminalstory, die übrigens auf einer wahren Geschichte beruht, die die gesamte Grausamkeit der Welt, der Menschen zusammenfasst, die dem Begriff „human“ seine fade Maske vom Gesicht reißt. Wir sollten voreinander Angst haben, lautet die Botschaft. Nein, wir müssen.


    Stringent, in jeder Zeile glaubwürdig, hochamüsant und zutiefst erschreckend. Glavinics bester Roman. Deutscher Buchpreis 2011, würde ich sagen.

  • Meins war es leider gar nicht.
    Ich habe das Buch nach 100 Seiten abgebrochen.


    Den Anfang und die Idee dahinter fand ich noch ganz interessant. Dieser koksende, saufende Kerl sitzt da und spricht via Internetradio zu ... vermutlich niemandem. Schnell wird klar, der Mann hat Angst. Große Angst. Der Grund ist "Das Phantom", eine Frau, bekannt bloß über ihre DNA, die an unterschiedlichen Tatorten gefunden wurde. Von Hühnerraub über Selbstverstümmlung bis hin zu bestialischem Mord ist alles dabei. "Lisa" ist überall. Und sie war in seiner Wohnung.


    Nur im Buch, da taucht sie nur nebenbei auf, eingerahmt in alles andere, was der Protagonist so zu erzählen hat. Und das ist eine Menge, leider fand ich nichts davon wirklich originell, interessant, neu oder ... was auch immer. Stimmung kam nicht auf, weil der Prota steht's auf dieselbe Weise - berauscht - erzählt. Palavert, um sich abzulenken. Okay, verständlich. Menschlich. Macht es aber nicht lesenswerter.
    Spannung ... gibt es nicht. Zumindest kam bei mir keine auf.


    Kurzgesagt: Umzusammenhängendes Blabla, vom versprochenen Horror fand sich nichts (albern überzogene Leichenbeschreibungen haben nichts mit Horror zu tun), über 100 Seiten musste ich auch nicht einmal Schmunzeln oder Lachen. Den bisherigen Inhalt habe ich über Nacht wieder vergessen. Mich lockt leider nichts zum Weiterlesen, und eine Aufklärung des Falls "Lisa" wird es höchstwahrscheinlich ohnehin nicht geben.


    Um nicht bloß zu meckern: Ein Satz gefiel mir gut, der wird mir in Erinnerung bleiben:


    Es gibt zu wenige intelligente Wüstlinge. Und zwar beiderlei Geschlechts.


    Als Kurzgeschichte hätte mir die Sache vermutlich gefallen, aber der Roman war für mich persönlich leider nur Zeit- und Geldverschwendung.

  • Dann bin ich ja mal gespannt. Ich habe das Buch bei phonostar gewonnen und es ist unterwegs. Da ich schräge Typen in Kombination mit einem Kriminalroman ja sehr mag, lass ich mich mal überraschen. Auf jeden Fall macht die Beschreibung jetzt sehr neugierig und Lust auf dieses ungewöhnliche Buch. Es gibt wohl auch eine Webseite des Autors, wo man in diese "Radio Show" reinhören kann.


    LG Melanie

  • Nachdem ich die letzten drei Veröffentlichungen von Thomas Glavinic ausnahmslos großartig fand, hat mich dieser Roman nur enttäuscht. 200 Seiten schmal und trotzdem habe ich mich nur durchgequält.


    Da ist die Erzählperspektive, die Transkription eines Podcasts, in dem der Erzähler mehr oder weniger belanglose Kommentare von sich gibt, die in einer Rahmenhandlung eingebettet sind, die insgesamt zu nichts führt. Es ist wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen moderner Literatur das Internet und die soziale Interaktion im Netz in Literatur abzubilden, aber diese Erzählform ist mir a) zu einfach (200 Seiten ausgedrucktes Internet), würde b) im "Originalmedium" (einem tatsächlichen Podcast oder zumindest einem Hörbuch) besser funktionieren und ist c) in ihrer Banalität wiederum zu gut umgesetzt. Der Erzähler fragt sich immer wieder wie viele Zuhörer er denn hätte. Vielleicht 10? Für diesen Podcast wäre das durchaus angemessen, aber für ein Buch, das den Anspruch hat, von einigen tausend Lesern gelesen zu werden, war mir das alles viel zu platt.


    Der Ausrutscher sei Glavinic verziehen (schließlich geht er wenigstens Risiken ein), ich warte dann halt aufs nächste Buch.


    EDIT: ich war gestern bei einer Autorenlesung im Rahmen der Lit.Cologne und behaupte jetzt das Gegenteil. Nun ja, fast. Zum einen gewinnt der Text durch das mündliche Vortragen, weil es dem Medium "Podcast" so näher kommt (ein Hörbuch müsste gut funktionieren) und außerdem hat man gemerkt, dass es mehr um die einzelnen Ausschweifungen, die vermeintlichen Banalitäten geht, als um den Kriminalplot, den ich weiterhin uninteressant finde. Den vorgetragenen Passagen konnte ich jetzt viel mehr abgewinnen: sehr witzig und durchaus originell.

  • Mir hat der Roman gefallen. :-)


    Glavinic lässt in seinem neuen Roman "Lisa" den Ich-Erzähler Tom einen Monolog führen. Tom hat sich mit seinem kleinen Sohn in einem Landhaus verschanzt und spricht über Internet-Radio zu einem unsichtbaren Publikum. Dabei raucht er wie ein Schlot, säuft und kokst.
    Tom hat Angst. In seine Wohnung wurde eingebrochen, und nun glaubt er, es sei die Schwerkriminelle, genannt 'Lisa'. Diese begeht auf der ganzen Welt rätselhafte und grausame Verbrechen, dabei bleibt sie selbst unsichtbar - hinterlässt nur eine DNA-Spur.
    Nun fühlt Tom sich verfolgt. Sein einziger Kontakt ist der Computer, so glaubt er sich über das Internet-Radio noch in Kontakt mit der Außenwelt.
    Aber sicher ist der Leser der einzige "Zuhörer", der den langen Monolog mitverfolgt.
    Unzensiert, ironisch und manchmal ganz schön böse ist Toms Redeschwall, seine Themen sind unter anderem Fernbeziehungen, Film, FPÖ, CSU, facebook, Menschen, die statt Paris Pariiiii sagen - stellenweise durchaus amüsant zu lesen.
    Zwischendurch liest man immer wieder von neuen Gräueltaten, die 'Lisa' begangen hat.
    Das Ende ist unerwartet und kann verwirren - auf jeden Fall muss man darüber nachdenken.
    Ohne zu belehren, wird uns ein Spiegel der heutigen Zeit und wohl auch von uns selber vorgehalten.
    Für mich gehört Thomas Glavinic mit zu den interessantesten deutschsprachigen Autoren und dies wird sicher nicht das letzte Buch sein, das ich von dem Autoren gelesen habe.


    Als Hörbuch könnte ich mir den Roman gut vorstellen, wenn er entsprechend gelesen wird.

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Titel: Lisa
    Autor: Thomas Glavinic
    Verlag: Hanser
    Erschienen: Februar 2011
    Seitenzahl: 208
    ISBN-10: 3446236368
    ISBN-13: 978-3446236363
    Preis: 17.90 EUR


    In einer verlassenen Berghütte hat sich ein Mann mit seinem Sohn versteckt. Er ist auf der Flucht vor einer Frau, die in sein Haus eingebrochen ist. Und wir die Polizei anhand von DNA-Spuren ermitteln konnte, ist diese Frau offensichtlich für eine Reihe von schlimmen Verbrechen verantwortlich. Überall in Europa wurden an Tatorten ihre DNA-Spuren entdeckt. Man ist erinnert, an die verunreinigten DNA-Wattestäbchen, die im realen Leben die Polizei in die Irre führten - als dieselben DNA-Spuren an zahlreichen Tatorten auftauchten. Und es ist sehr schnell klar, dass diese Geschehnisse Thomas Glavinich offensichtlich zu dieser Geschichte inspiriert hatten.


    Der Mann in seiner Berghütte hat kaum noch persönliche Kontakte zur Außenwelt. Nur über Mails und das Telefon hält er noch Kontakt zur Außenwelt. Und über sein Internet-Radio spricht er zu einem virtuellen Publikum, von dem er nicht weiß wieviele Hörer es umfasst oder ob ihm überhaupt irgendjemand zuhört.


    Dieses Buch ist quasi der "Mittschnitt" seiner Internetsendungen. In diesen Sendungen spricht er über Lisa. Diesen Namen gab man der unbekannten Verbrecherin. Aber er spricht auch über viele andere Dinge. Immer wieder schweift er ab, kommt vom Hunderste ins Tausendste - nimmt zu den verschiedensten Dingen aus dem alltäglichen Leben und seinem ganz persönlichen Leben Stellung. Er nimmt kein Blatt vor dem Mund. Bei vielen seiner Sendungen wird von Kokain oder Alkohol "unterstützt" - und so sind manche seiner Beiträge schon etwas diffus. In allem und jedem vermutet er eine Bedrohung, schon kleinste Abweichungen von der täglichen Norm beunruhigen ihn. Manchmal schafft er es auch nicht Realität und Fiktion auseinanderzuhalten.


    Thomas Glavinic gehört ganz sicher zu den ungewöhnlichsten zeitgenössischen Erzählern. Auch diese vorliegende Geschichte ist ganz sicher nicht alltäglich - sie ist vielmehr skurril und allein von der Idee her schon beachtenswert. Ein Erzähler der sich von keiner Seite vereinnahmen lässt, der in keine Schublade zu stecken ist - einer dieser eigenwilligen Autoren die es schaffen, immer wieder die Leser mit etwas Ungewöhnlichen zu überraschen.


    Ein wirklich lesenswertes Buch mit einem doch überraschenden Ende - auch wenn der Leser kurz vor Beendigung des Buches sich ganz sicher dem Irrtum hingegeben hatte "alles sei ja klar" - dabei war eigentlich nichts klar.


    Edit: Zu diesem Buch gibt es bereits ein Rezi, die mir aber bei der Suche nicht angezeigt wurde. Habe dieses Fred daher zum Zusammenführen gemeldet.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Voltaire ()

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Voltaire, ich habe die Beiträge, wie gewünscht, zusammengefügt! :wave


    Danke. :wave :wave :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.