Murail, Marie-Aude:
So oder so ist das Leben
Fischer 2011. 256 S. 13,95€
ISBN-10: 3596853591
ISBN-13: 978-3596853595
Originaltitel: La fille du docteur Baudoin
Übersetzer: Tobias Scheffel
Über die Autorin:
Marie-Aude Murail stammt aus einer Schriftstellerfamilie aus Le Havre, Frankreich. Sie studierte Philosophie an der Sorbonne. Mit ihren Geschichten amüsiert sie Kinder wie Erwachsene – deshalb zählt sie zu den beliebtesten zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen Frankreichs und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. 2008 wurde ihr Roman »Simpel« von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Quelle: Fischer Verlag
Verlagstext:
Violaine ist schön und gelangweilt. Ihr Vater ist arrogant und berufsmüde, die Mutter ständig gestresst. Ihr fünfzehnjähriger Bruder ist blöd und oberflächlich, die kleine Schwester ziemlich clever. Vaters junger Assistenzarzt ist süß, doch ein bisschen schwer von Begriff … Und dann wird Violaine schwanger. Klar, dass das ihr Leben durcheinanderbringt. Aber nicht nur ihres, sondern auch das der gesamten Familie!
Ein Buch zum Denken und Fühlen, Weinen und Lachen über die Liebe und das Leben.
Zum Inhalt:
Wenn die Tochter des Doktors ungeplant schwanger wird
Dr. Baudoin fühlt sich so hilflos wie unter Aliens, wenn er erschöpft in die abendliche Rush-Hour seiner Familie (berufstätige Eltern, Tochter, Sohn, Tochter) platzt. Vom häuslichen Lärmpegel überfordert fragt der Allgemeinarzt sich, warum seine Kinder, die er doch früher vergötterte, nun am liebsten jedes für sich vor dem Computer hocken. MSN, Onlinespiele, das volle Programm. Baudoin fühlt sich ausgebrannt; seine redseligsten Patienten schiebt er am liebsten an seinen jungen Assisten Chasseloup ab. Doch wenn ängstliche Patienten lieber bei Dr. Chasseloup bleiben wollen, weil er sich Zeit für sie nimmt, ist es dem Chef wieder nicht recht. Die 17-jährige Violaine Baudoin vermutet, dass sie vom ersten, eher widerwilligen Sex "mit Aufpassen" schwanger geworden ist. Ein Schwangerschaftstest zeigt unübersehbar als Ergebnis positiv, doch Violaine traut sich nicht, ihrem in Gedanken stets abwesenden Vater und Hausarzt das Ergebnis mitzuteilen. Als Violaine und ihre Freundin Adelaide jünger waren, dachten sie sich gern Namen für die Kinder aus, die sie später haben wollten - die eine wünschte sich sechs, die andere gleich acht. Ein Jahr vor dem Abitur muss Violaine nun entscheiden, ob sie von einem Jungen ein Kind möchte, mit dem sie geschlafen hat, damit er sie nicht zickig findet. Violaine ist übel, ihr Körper fühlt sich fremd an. Abtreiben? - Nein. Ihr Kind zur Welt bringen? - Auch nein. Einen Rat vom eigenen Vater? - Ebenfalls nein.
Freundin Adelaide ergreift die Initiative und schleppt Violaine zu ihrer eigenen Ärztin (die keine Gynäkologin ist). Die putzt die junge Patientin forsch herunter. Ein Termin im Zentrum für Familienplanung, das ein armseliges Dasein in einer abgelegenen Ecke eines Krankenhauses fristet, endet ähnlich katastrophal. Die Mädchen haben den Tag erwischt, an dem nur die Eheberaterin Dienst hat. Die Beraterin Annie nähert sich dem Problem auf Umwegen; auch hier fühlt sich Violaine nicht ernstgenommen. Während Vater Baudoin erst durch einen Alptraum aus seiner familienbezogenen Lethargie geweckt wird, hat seine älteste Tochter längst einen Termin für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch verabredet. In genau diesem Zentrum für Familienplanung arbeitet an zwei Nachmittagen der Woche ohne Wissen seines Chefs Dr. Chasseloup. Für Violaine wird dieser Zufall lebensrettend sein; denn beim Schwangerschaftsabbruch kommt es zu Komplikationen. Das ernüchternde Fazit aus Violaines Erlebnissen: Verlass' dich nicht auf Erwachsene; denn sie sind nur mit sich selbst beschäftigt. Helfen wird dir zuerst deine gleichaltrige Freundin. Das Beratungs-Desaster bleibt leider unkommentiert und die märchenhafte Auflösung der Verwicklungen scheint eher die Wunschvorstellung einer älteren Autorin zu sein.
Fazit:
Spontan fand ich Violaines Beratungs-Marathon zutiefst deprimierend und konnte mir keine Zwölfjährige vorstellen, der ich das Buch mit Überzeugung empfehlen würde. Nachdem ich Violaines Geschichte ein zweites Mal gelesen habe, wirkt sie nun auf mich wie ein ironischer, bisweilen zynischer Familienroman, in dem neben vielen anderen Figuren auch eine ungeplant schwangere 17-Jährige vorkommt. Während meiner zweiten Leserunde sind mir besonders Adelaide und die kleine Schwester Cerise ans Herz gewachsen. Marie-Aude Murail trifft die Atmosphäre in einer Familie, in der alle gestresst aneinander vorbeihetzen, auf den Punkt und zeigt dabei verblüffenden Sprachwitz, der eher Erwachsene als Jugendliche schmunzeln lassen wird. Das Thema Schwangerschaftsabbruch, die Übermacht erwachsener Protagonisten und die Sprache des Textes richten sich m. A. an erwachsene routinerte Leser, die sich unter "Niederkommen" oder "unpässlich sein" einer Frau noch etwas vorstellen können.
Das Buch enthält eine ganze Reihe von Impulsen zur Diskussion über ethische oder soziale Fragen (Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ärztliche Ethik und der Patient als Kostenfaktor im Gesundheitswesen, Baudoins nahender Burnout, eine fast volljährige Frau, die sich auf ungewollten und ungeschützten Sex einlässt, die moralische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs). Als Klassenlektüre, für den Ethikunterricht oder im Original (La fille du Docteur Baudoin) im Französisch-Unterricht kann ich mir die Geschichte sehr gut vorstellen. Warum französischen Jugendlichen anspruchsvolle Themen der Jugendliteratur sehr viel früher als deutschen Lesern zumutbar sind und warum deutsche Eltern und Pädagogen bei der Auswahl von Jugendlektüre offenbar erheblich harmoniebedürftiger sind als französische, wäre eine weitere interessante Frage.
Abweichend von der Altersempfehlung des Verlags empfehle ich das Buch nicht ab 12 sondern erst ab 16 Jahren.
7 von 10 Punkten