Der Märchenerzähler
Antonia Michaelis
Verlag Friedrich Oetinger
ISBN: 978-3789142895
447 Seiten, 16,95 Euro
Über die Autorin: Antonia Michaelis wurde 1979 in Kiel geboren. Ihre Kindheit und Jugend verlebte sie in Augsburg, wo sie im Alter von fünf Jahren bereits anfing zu schreiben. Nach dem Abitur arbeitete sie in Südindien ein Jahr lang als Lehrerin. In Greifswald studierte sie anschließend Medizin, trieb sich zwischendurch ein wenig in Nepal, Peru und Ghana herum, und begann Geschichten für Kinder und Jugendliche zu veröffentlichen. Heute lebt die Autorin mit Mann, kleiner Tochter und 3000 Quadratmeter Brennnesseln in der Nähe der Insel Usedom. Hühner besitzt sie allerdings keine.
Handlung: Seine Lippen waren kalt wie Schnee, aber jenseits der Lippen lag die Wärme von samtenem rotem Stoff, Stoff auf dem nächtlichen Deck eines Schiffes. Sie spürte seine Zunge und dachte an den Wolf. Und wenn es wahr ist, dachte sie, wenn das Märchen wahr ist? Ein Genickschuss und ein tödlicher Biss in den Nacken. Alles stimmt. Und wenn ich einen Mörder küsse?
Abel Tannatek der Außenseiter, der Schulschwänzer, der Drogendealer. Wider besseres Wissen verliebt Anna sich rettungslos in ihn. Denn da gibt es noch einen anderen Abel. Den sanften und traurigen Jungen, der für seine Schwester sorgen muss und der ein Märchen erzählt, dass Anna nicht mehr loslässt. Doch die Grenzen der Realität und Fantasie verschwimmen. Was, wenn das Märchen gar kein Märchen ist, sondern grausame Wirklichkeit? Was, wenn Annas Befürchtungen wahr werden? Was, wenn der, den sie liebt, zugleich ihr schlimmster Feind ist?
Meine Meinung: Ich bin gerade aus einem Märchen aufgewacht und immer noch ganz benommen von dem Zauber der Worte mit dem es mich eingehüllt hat. Es hat mit den Märchen in meiner Kindheit eines gemeinsam - es wird mir in Erinnerung bleiben.
Anna fühlt sich zu Abel hingezogen, dem Außenseiter mit dem schlechten Ruf. Sie kommt ihm näher, als ihm anfangs lieb ist und sie entdeckt, dass er eine kleine Schwester hat, um die er sich intensiv kümmert und der er die merkwürdigen Dinge, die in ihrer beider Leben geschehen, in einem Märchen zu erklären versucht. Sie spielt in diesem Märchen die Hauptrolle. Er nennt sie dort die kleine Königin.
Zitat: „Das sind die Jäger“, sagte der Seelöwe. „Sie jagen bei Tag und bei Nacht, bei Regen und Sturm. Dreh dich nicht zu oft nach ihnen um, kleine Königin.“ „Was wollen sie?“ flüsterte die kleine Königin. „Hinter was sind sie her?“ „Hinter dir“, antwortete der Seelöwe. „Es gibt etwas, das du wissen musst. Dein Herz, kleine Königin…ist kein gewöhnliches Herz. Es ist ein Diamant. Rein und weiß und groß und wertvoll wie kein zweiter. Könnte man dieses Herz aus deiner Brust lösen, würde es so hell funkeln und glitzern wie die Sonne.“ „Aber man kann es nicht aus meiner Brust lösen, nicht wahr?“ fragte die kleine Königin. „Nein“, antwortete der Seelöwe ernst. „Nicht, solange du lebst.“
Nur langsam lässt Abel Nähe zu und gibt dennoch seine Geheimnisse nicht preis. Doch in seinen Märchen scheint er immer einen Schritt weiter als in der Wirklichkeit zu sein, in der plötzlich Menschen ermordet werden, die etwas mit Abel zu tun hatten…
Von Anfang an nimmt einen diese märchenhafte Sprache gefangen. Das Märchen, das Abel seiner kleinen Schwester und Anna erzählt und das jeden Tag ein Stückchen länger wird, endet sprachlich nicht. Die Wortwahl und der Erzählstil bleiben auch im Haupt-Erzählstrang gleich. Das gibt der ganzen Geschichte einen etwas verträumten, verwunschenen Charakter und lässt sie ein wenig unwirklich erscheinen. Eventuell zu unwirklich, sprachlich zu schön, um die Erwartungen der jugendlichen Zielgruppe, an die es gerichtet ist, zu erfüllen? Oft erinnert das Abenteuer der kleinen Königin an die Reise des kleinen Prinzen und Anna nennt den Märchenerzähler Abel de Saint-Exupéry.
Über allem liegt eine Melancholie, die einen beim Lesen spüren lässt, dass nicht nur das Herz der kleinen Königin gefährdet ist, denn Anna verfällt dem Märchen und dem Erzähler immer mehr. Er hüllt sie ein mit seinen Worten und für sie verschwimmen Realität und Fiktion immer mehr. Mir erging es beim Lesen fast ebenso: zwischen diesen beiden Buchdeckeln befinden sich eine Liebesgeschichte, ein Märchen, eine Tragödie, ein Krimi und unzählige Träume, doch was manchen Autoren gern auch mal misslingt, wenn sie so viel in ihre Geschichte packen wollen - hier passt alles zusammen, es ist nichts zu viel und man fühlt sich weder erschlagen von der Handlung, noch wirkt etwas überflüssig.
Mein Fazit: Ein Buch für alle, die sich verzaubern lassen wollen, die die poetische Erzählweise von Antonia Michaelis kennen und mögen - vielleicht sollte man de Saint- Exupéry gern gelesen haben, um den Weg der kleinen Königin verstehen zu können. Mir hat diese wundervolle Sprache sehr gut gefallen und ich wünsche dem Buch viele Leser, die sich ebenso einfangen lassen von seiner Magie.