Nemesis - Philip Roth

  • # Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
    # Verlag: Hanser (7. Februar 2011)
    # Sprache: Deutsch


    Kurzbeschreibung
    Newark 1944. In der Stadt bricht eine schreckliche Polioepidemie aus. Die meisten Betroffenen sind Kinder, denen Lähmung oder gar der Tod droht. Bucky, ein junger Sportlehrer, bewahrt die Ruhe, während in den Familien Panik herrscht. Als er seine Freundin Marcia in ein Kinderferienlager begleitet, scheint der Fluch der Seuche in der idyllischen Landschaft gebannt. Doch wenige Tage nach Buckys Ankunft erkranken auch hier zwei Jungen an Polio und ihn beschleicht ein schrecklicher Verdacht ...


    Über den Autor
    Philip Roth wurde 1933 in Newark, New Jersey, geboren. Für sein Werk wurde er mit allen bedeutenden amerikanischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Im Jahre 2001 erhielt er die höchste Auszeichnung der American Academy of Arts and Letters, die Goldmedaille für Belletristik, die alle sechs Jahre für das Gesamtwerk eines Autors verliehen wird. 2006 wurde Philiph Roth mit dem Pen/Nabokov-Preis ausgezeichnet, 2007 erhielt er den Saul-Bellow-Preis des Schriftsteller-Verbands und 2009 den "Welt"-Literaturpreis.


    Meine Meinung


    "Er staunte über die Vielfalt des Lebens und über die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber den Umständen. [...] Er war ein Mensch, der die Lösung all seiner Probleme bisher stets in Sorgfalt, Verantwortungsbewusstsein und harter Arbeit gefunden hatte, doch nun war ihm weitgehend unerklärlich, warum alles so geschah, wie es geschah."


    "Nemesis" ist, nach "Jederman", "Die Demütigung" und "Empörung", der letzte von mehreren kürzeren Romanen von Philip Roth.


    Roth erzählt die Geschichte des jungen Sportlehrers Bucky Cantor, der sich während der Polioepidemie aufopferungsvoll um seine Schüler kümmert und in all dem Chaos einer der wenigen ist, der darum bemüht ist, die Ruhe zu bewahren. Als die Poliofälle bei Kindern an seiner Schule und in dem Viertel, in dem er wohnt, jedoch zunehmen, entscheidet er sich die Stelle als Bademeister in einem Sommerferiencamp anzunehmen, um der Epidemie vorübergehend zu entfliehen. Aber die friedliche und ausgelassene Atmosphäre dort, bleibt nicht lange erhalten ...


    Philip Roth ist mit "Nemesis" ein fantastisches Buch gelungen, dass ich in fast einem Atemzug gelesen habe - ich habe mich einfach nicht in der Lage gesehen, es wieder aus der Hand zu legen.


    Das erste Drittel des Buches über den Ausbruch der Epidemie ist sehr eindringlich und spannend beschrieben und im zweiten Teil bringt Roth die Geschichte noch einmal auf eine ganz andere Ebene, da Bucky sein Schicksal sehr stark hinterfragt und damit gleichzeitig auch beginnt an Gott zu zweifeln. Bucky wird aufgrund seiner schwachen Augen nicht als Soldat eingezogen, was sich für ihn für ein persönliches Versagen anfühlt, eine Schuld, die er auf sich lädt. Und auch vor der Polioepidimie flüchtet er und lässt die ihm anvertrauten Kinder im Stich.


    Zitat

    "Und wo kommt Gott bei all dem ins Spiel? Warum setzt Er den einen mit einem Gewehr in das von Nazis besetzte Frankreich und den anderen mit einem Teller Makkaroni mit Käse in den Speispavillon von Camp Indian Hill? Warum lässt Er das eine Kind aus Weequahic den Sommer über im von Polio heimgesuchten Newark und schickt das andere in das sonnenbeschiene, leuchtende Refugium der Poconos?"


    Am Ende des Buches trifft man auf einen gealterten und vor allem verbitterten Bucky, der sein Schicksal bedauert und beklagt und das Gefühl hat, von Gott oder einem höheren Schicksal allen Möglichkeiten beraubt worden zu sein. All dies wirkt aber eigentlich nie weinerlich, sondern als Leser habe ich vor allem Mitgefühl empfunden. Dies ist auch ein Unterschied zu anderen Büchern von Roth, da man in diesem Buch die Hauptfigur eigentlich ausschließlich nur sympathisch finden kann, da es sich bei Bucky Cantor um einen sehr liebenswerten jungen Mann handelt, dessen Leben sich durch ein schweres und unverschuldetes Schicksal, gewandelt hat.


    Wenn ich könnte, würde ich 100 Punkte vergeben.
    So bleibe ich bei 10.

  • Deine Rezensionen sind gefährlich für meine WL, Buzz! :cry
    Vielen Dank für die schöne Rezi.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Zitat

    Original von Conor
    Deine Rezensionen sind gefährlich für meine WL, Buzz! :cry
    Vielen Dank für die schöne Rezi.


    :wave


    :write

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Vielen Dank für die tolle Beschreibung. Ich habe es bei audible auch schon gesehen, konnte aber nicht so richtig etwas damit anfangen, aber jetzt fällt mir die Entscheidung leichter.


    Wurde soeben in den Warenkorb gepackt und wird dann bald gehört werden.


    LG Melanie

  • Das war mein erstes Buch von Roth (in wiefern war das denn kein typisches Roth-Buch?) und ich fand es auch sehr tragisch und sehr gut.
    Ich kann gar nicht viel darüber sagen, irgendwie muss man es lesen.
    Aber wie furchtbar muss es sein, wenn man das Gefühl hat, dass man sich so doll bestrafen muss und die Folgen der Krankheit verdient hat?
    Dieses kurze "ich" in der ersten Hälfte fand ich gelungen, es kam absolut überraschend und war schon wieder fort. Ebenso fand ich, dass das letzte Wort "unbesiegbar" ganz schön unter die Haut ging.


    10 Punkte

  • Zitat

    Original von Bones
    Das war mein erstes Buch von Roth (in wiefern war das denn kein typisches Roth-Buch?) und ich fand es auch sehr tragisch und sehr gut.


    Worauf genau spielst du an? Ich habe - wenn ich mich richtig erinnere - nicht geschrieben, dass es kein typisches Buch von Roth ist. Was hier meiner Meinung nach etwas untpyisch ist, ist die Tatsache, dass die Bucky, die Hauptfigur des Buches, durchgehend sympathisch. Das trifft auf viele andere Charaktere von Roth eben nicht zu.

  • buzzaldrin : Das war nicht speziell auf Deine Rezi bezogen, sondern allgemein gefragt. ;-) Irgendwie hatte ich von Leuten abwertend gehört "ne, Roth lese ich nicht". Ich bin mit Zweifel an das Buch herangegangen und da es mir so überraschend gut gefallen hat, dachte ich, es wäre halt anders als die früheren Werke. Deshalb hatte ich das einfach mal in den Raum geworfen.
    Aber wenn dem nicht so ist (eigentlich auch Quatsch, in dem Alter ändert man wahrscheinlich nicht mehr seinen Stil), dann kann ich mich ja ruhig an weiteren Büchern von ihm vergreifen. :-]

  • Ich habe das Hörbuch zwar durch, aber noch lässt Nemesis mich nicht los.


    Eine gut erzählte Geschichte, ohne Frage. Aber über die Interpretation mache ich mir noch Gedanken.


    Es kommt Philip Roth wahrscheinlich nicht auf den Gegensatz zwischen Atheismus und dem Glauben an einen bösen, strafenden Gott an.
    Vermutlich wollte Roth den Typ Menschen portraitieren, der von irrationalen Schuldgefühlen aufgefressen wird und deshalb das Leben verpasst.


  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Vermutlich wollte Roth den Typ Menschen portraitieren, der von irrationalen Schuldgefühlen aufgefressen wird und deshalb das Leben verpasst.


    Das beschreibt Bucky wirklich sehr treffend. Er bestraft sich sein ganzes Leben lang selbst für das, was er glaubt getan zu haben.


    Ganz interessant fand ich die Besprechung von J.M. Coetzee, die man aber erst lesen sollte, wenn man auch das Buch gelesen hat, da sie meiner Meinung nach zu viel verrät:


    http://www.nybooks.com/article…/2010/oct/28/moral-brink/

  • Coetzees Rezi ist lang, fast schon ein Essay. Danke für den Link.


    An Nemesis hat mich auch die Erzählperspektive beeindruckt, die sich erst in den letzten Abschnitten richtig erklärt. Clever gemacht.
    Ich war zwischendurch mal überrascht das Bucky plötzlich Mr. Cantor genannt wurde. Dann taucht doch tatsächlich noch ein Erzähler als Person auf.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Coetzees Rezi ist lang, fast schon ein Essay. Danke für den Link.


    An Nemesis hat mich auch die Erzählperspektive beeindruckt, die sich erst in den letzten Abschnitten richtig erklärt. Clever gemacht.
    Ich war zwischendurch mal überrascht das Bucky plötzlich Mr. Cantor genannt wurde. Dann taucht doch tatsächlich noch ein Erzähler als Person auf.


    Ja, dass mit der Erzählperspektive ist wirklich ziemlich gut gemacht und zwischen durch war ich dann auch etwas irritiert - wobei es sich dann ja klärt, wenn der Erzähler auftaucht.

  • Was soll ich sagen? Ich schließe mich buzzaldrins Begeisterung hundertprozentig an. Beeindruckend!

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Zitat

    Original von FrauWilli
    Was soll ich sagen? Ich schließe mich buzzaldrins Begeisterung hundertprozentig an. Beeindruckend!


    Ui, das freut mich sehr zu hören, FrauWilli! :wave Ich hoffe sehr, dass Philip Roth auf diesem Niveau weiterschreiben kann - dann werde ich mir mit Vergnügen die nächsten zehn oder zwanzig (wieviel auch immer da noch kommen werden) kaufen können.

  • Das hoffe ich auch, aber vorher wünsche ich ihm den schon lange verdienten Literaturnobelpreis :-] - dieser Wunsch wurde zwar schon oft geäußert, aber ich werde trotzdem nicht müde es immer wieder zu sagen :wave

    Herzlichst, FrauWilli
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  • Ich kann mich Buzz Meinung vollkommen anschließen - mit der Einschränkung, dass ich Bucky nicht durchgehend sympathisch fand. Durch seinen Wesenszug, sich für alles (allein?!) verantwortlich zu fühlen, kam er mir teilweise fast arrogant vor. Und das Selbstmitleid am Ende des Buches fand ich nun auch nicht wirklich gewinnend.


    Nichtsdestotrotz finde ich die Darstellung von Buckys Entwicklung, das Hadern mit seinem Schicksal, unheimlich eindringlich und eindrucksvoll. Ich sollte mehr von Roth lesen, aber ich glaube, so weit waren wir schon mal. :grin

  • Die Eigenschaft, sich für alles die Schuld zu geben, habe ich nicht als eine arrogante Haltung empfunden. All diese Schuld zu tragen und den Zwang, diese Schuld ganz allein auf sich zu nehmen habe ich eher als etwas sehr bedrückendes empfunden.


    Zitat

    Original von Vulkan
    Ich sollte mehr von Roth lesen, aber ich glaube, so weit waren wir schon mal. :grin


    So etwas kann man nie zu oft beschließen, liebe Vulkan :grin

  • Zitat

    Original von buzzaldrin
    Die Eigenschaft, sich für alles die Schuld zu geben, habe ich nicht als eine arrogante Haltung empfunden. All diese Schuld zu tragen und den Zwang, diese Schuld ganz allein auf sich zu nehmen habe ich eher als etwas sehr bedrückendes empfunden.


    Bedrückend ist es sicher. Aber ich finde, dass Roth auch die andere Seite des Schuldgefühls herausarbeitet: nämlich das Gefühl, etwas ändern, bewirken zu können. Vielleicht ist Arroganz das falsche Wort, aber es ist schon ein Hauch (oder Windstoß...) von Omnipotenzgefühl in Bucky, der erst sein allumfassendes Schuldgefühl ermöglicht - zumindest habe ich es so empfunden. Aber gerade dieses Wechselverhältnis fand ich von Roth extrem geschickt beschrieben.