Volltständiger Titel: "Angeklagt: Der Papst: Die Verantwortlichkeit des Vatikans für Menschenrechtsverletzungen"
Titel der englischen Originalausgabe: "The Case of the Pope: Vatican Accountability for Human Rights Abuse"
Weltweit wurden in den letzten dreißig Jahren zehntausende von Kindern durch katholische Priester sexuell missbraucht. Der Anwalt für Menschenrechte, Geoffrey Robertson untersucht in seinem Buch die Frage, inwieweit der Vatikan bzw. der Heilige Stuhl, sowie Joseph Ratzinger in seiner Funktion als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre von 1981 bis 2005 und als Papst juristisch verantwortlich für den Kindesmissbrauch durch katholische Priester gemacht werden können.
Nach einer Zusammenfassung der Missbrauchsskandale in den USA, Irland, Australien und anderen Ländern geht es zunächst um das Kanonische Recht, das die internen Angelegenheiten der kirchlichen Gemeinschaft regelt und für viele Bereiche eine eigene Gerichtsbarkeit vorsieht, so auch für Kindesmissbrauch durch Priester.
Insbesondere kritisch zu sehen ist hier die Verpflichtung aller Beteiligten, inklusive der Opfer, zur absoluten Verschwiegenheit (unter Androhung der Exkommunikation), die weitgehend verhindert hat, dass Priester, die Kinder missbraucht haben, vor ein weltliches Gericht gestellt und angemessen bestraft wurden. In den allermeisten Fällen wurden straffällig gewordene Priester nur stillschweigend in eine andere Gemeinde oder in ein anderes Land versetzt, wo sie ungehindert weiter Kinder missbrauchen konnte.
Im nächsten Kapitel geht es um die 1929 zwischen dem Heiligen Stuhl und dem damaligen Königreich Italien (vertreten durch Mussolini) abgeschlossenen Lateranverträge, die dem päpstlichen Hoheitsgebiet einen staatsrechtlich definierten Status gaben. Damit eröffneten sie dem Papst die Möglichkeit, auf der Ebene der internationalen Politik aktiv einzugreifen, wenn auch mit der Vorgabe, bei Konflikten lediglich schlichtend tätig zu werden. Eine weitere, für den Missbrauchsskandal relevante Folge ist die Immunität des Papstes als Staatsoberhaupt, sowie die Immunität des Heiligen Stuhls. Aus diesem Grund setzt sich Roberson im folgenden Kapitel mit der Frage auseinander, ob der Vatikan nach der "Montevideo Convention of Rights and Duties of States" überhaupt die Bedingungen erfüllt, ein Staat zu sein.
Dann geht es darum, wie sich der Vatikan durch geschicktes diplomatisches Manövrieren einen Status als Nicht-Mitgliedsstaat (non-member state) in der UN erschleichen konnte, obwohl er eigentlich gar kein Staat ist und welche Folgen das für den Rest der Welt hat. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass der Vatikan seine Pflichten als Nicht-Mitgliedsstaat der UN nicht nachkommt, jedoch jede Gelegenheit ausnutzt, seine Privilegien als solcher zu benutzen, um seine eigenen theologischen Dogmen in die Politik der UN einfließen zu lassen, zum Beispiel in Fragen der Empfängnisverhütung oder Gleichstellung von Homosexuellen. Verabscheuenswert hier auch die Erpressung von katholischen Politikern mit der Drohung auf Exkommunikation, wenn sie nicht im Sinne des Vatikans abstimmen.
Im nächsten Kapitel geht es speziell noch mal um die UN-Kinderrechtskonvention und die Frage, ob der Vatikan diese verletzt, wenn er darauf besteht, dass die Kirche "inhärente Rechte" hat, straffällig gewordene Priester vorbei am jeweiligen Strafrecht des Landes zu nach eigenen disziplinarischen Prozeduren zu disziplinieren.
In den nächsten drei Kapiteln geht es zum einen um die Frage, ob man Papst Benedikt strafrechtlich verantwortlich machen kann. Des Weitern, ob man die Problematik der Immunität dadurch umgehen kann, indem man den Vatikan tatsächlich als Staat ansieht und auch so behandelt. Dann gibt es nämlich noch die Möglichkeit, den systematischen Missbrauch von Kindern als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen und nach Völkerstrafrecht ( international criminal law) zu verhandeln. Hier ist natürlich das Problem, dass der Papst sicher keinen Kindesmissbrauch befürwortet oder angeordnet hat. Allerdings kann man ihm möglicherweise Vernachlässigung seiner Aufsichtspflicht über seine Bischöfe und Priester vorwerfen. Der Vatikan versucht sich hier mit einer lustigen Taktik herauszuwieseln, und zwar in dem er sagt, dass die Beziehung des Vatikans zu seinen Priestern so kompliziert sei, dass selbst Theologen sie nicht verstehen und ein normaler weltlicher Richter deshalb erst recht nicht und er deshalb nicht vor ein weltliches Gericht gestellt werden kann. Als weiterer Punkt wird diskutiert, ob man den Papst oder den Vatikan zivilrechtlich verantwortlich machen kann. Diese Frage ist insbesondere für US-amerikanische Opfer relevant, die oft erleben mussten, dass Diözesen Bankrott angemeldet haben, nachdem sie zu Schadensersatz verurteilt worden.
Das Buch enthält auch noch diverse Anhänge. Zum einen ein Auszug aus dem Verhör von Bishof Curry, in dem er zum Fall von Father Michael Baker befragt wurde. Father Baker hatte 1974 begonnen, Kinder zu missbrauchen. 1986 beichtete er dies. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Paraclete Order in New Mexico, die ein niemals auf Wirksamkeit überprüftes Behandlungsprogramm für pädophile Priester anbietet, wurde Father Baker nacheinander in neun andere kalifornische Gemeinden versetzt, wo er für weitere fünfzehn Jahre Kinder missbrauchte. Im Verhör wird deutlich, dass Bishop Curry zum einen keine Ahnung hatte, wie er mit dem Fall umgehen sollte, zum anderen aber auch, dass er sich überhaupt keine Gedanken um die Opfer gemacht hat. Er hat noch nicht mal nach den Namen der Kinder gefragt und versucht, die Opfer ausfindig zu machen, um ihnen psychotherapeutische Hilfe anzubieten. Und das scheint mir auch das oberste Ziel zu sein: den Ruf der Katholischen Kirche und die Seelen der missbrauchenden Priester durch Buße und Vergebung zu retten. Am allerwenigsten scheint es um das Wohlergehen der Opfer zu gehen.
Die Auszüge aus Crimen Sollicitationis von 1962, bestätigen meine Einschätzung noch mal. (Zitat: "All these official communications shall always be made under the secret of the Holy Office; and, since they are of the utmost importance for the common good of the Church, the precept to make them is binding under pain of grave [sin]"). Desweiteren gibt es im Anhang Auszüge aus Sacramentorum sanctitatus tutela von Kardinal Ratzinger (2001) und De gravioribus delictus (Juli 2010), in denen noch einmal die absolute Geheimhaltung betont wird.
Interessant fand ich hier auch, dass unter den "more grave delicts" aufgeführt sind: das Wegwerfen einer Hostie, der Versuch, eine Frau zum Priester zu weihen und der sexuelle Missbrauch von Kindern. Während man für die anderen beiden Delikte exkommuniziert werden kann, kann der sexuelle Missbrauch von Kindern maximal mit der Laisierung ("defrocking") des Priesters bestraft werden. Ich kann daraus nur schließen, dass der Vatikan das Wegwerfen eines Crackers und die Ordination von Frauen als schlimmeres Delikt ansieht als Kindesmissbrauch.
Das Buch richtet sich nicht gegen Religionen allgemein oder den katholischen Glauben und Katholiken im Speziellen. Ich habe keine Ahnung, ob Robertson an Gott glaubt, aber er scheint zu denen zu gehören, die an den Glauben glauben, also daran, dass der Glaube, vielen Menschen eine Ressource ist, und sie inspiriert, Gutes zu tun. Obwohl das Buch wie ein juristisches Dokument in Paragraphen geschrieben ist, kommt es weitgehend ohne Juristensprache aus und ist auch für Laien verständlich. Der Autor schreibt zunächst eher nüchtern, in der zweiten Hälfte des Buches schleicht sich jedoch die eine oder andere bissige Formulierung ein. Insgesamt liest es sich sehr spannend und ich halte es für ein wichtiges Buch, das jedoch eine leichte Übelkeit bei mir zurück lässt.
Über den Autor
Georffrey Robertson (geboren 1946) ist ein in Australien geborener Anwalt für Menschenrechte. Er ist Gründer und Leiter von "Doughty Street Chambers", Groß-Britanniens führender Praxis für Menschenrechte. Seit Dezember ist er Anwalt von Wikileaks-Gründer Julian Assange. Geoffrey Robertson lebt mit seiner Frau Kathy Lette und seinen zwei Kindern in London.
[edit: Übersetzungsfehler korrigiert]
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