OT: La peau et les os 1949
Das kleine, nur wenig über hundert Seiten lange Buch nennt sich ‚Roman’, aber im landläufigen Sinn ist es sicher keiner. Es sind fünf Geschichten eines Ich-Erzählers über die Unmöglichkeit, nach einer fünfjährigen Kriegsgefangenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft, die wieder zur Norm erklärte wurde, einen Platz zu finden, der jener Erfahrung angemessen wäre. Die Geschichten sind fiktionalisiert und autobiografisch zugleich. Es sind nicht einmal regelrechte Geschichten, sondern Schilderungen bestimmter Situationen und daraus hervorgehender Gedanken über das Leben als Kriegsgefangener und die Auswirkungen auf Menschen.
Übersetzt hat es Julia Schoch, ihr Feinsinn und ihre Versiertheit sorgen dafür, daß man sich ganz ungestört dem Autor widmen kann.
Der Autor macht Leserinnen und Lesern den Einstieg leicht.
In der ersten ‚Geschichte’, Zusammengesetzte Vergangenheit, sitzen wir bei einem sonntäglichen Mittagessen. Es ist längst Frieden, der Heimkehrer im Kreis der Familie wiederaufgenommen. Alles atmet Behaglichkeit und Wohlstand. Man zeigt Mitleid und Mitgefühl mit dem Betroffenen. Tatsächlich aber möchte niemand wissen, wie es ihm geht. Das Mitgefühl äußert sich am ehesten darin, daß man seinen Teller und das Glas stets gut füllt. Überhaupt achtet die Familie gut darauf, daß Teller und Gläser gut gefüllt sind, denn niemand will sich daran erinnern, wie der Krieg gewesen ist.
Was die Lager angeht, da gibt es doch so schöne Geschichten. Lustige Geschichten darüber, wie dumm die Deutschen sind, wie die cleveren Gefangen sie heimlich übers Ohr gehauen haben. Oder aber Geschichten von Mut und Tapferkeit, von heroischer Männlichkeit und tollkühnen Fluchtplänen, wie in den Filmen und Romanen. Nur besiegt worden sein, das darf man nicht.
Die Abwehr dagegen ist so stark, daß nicht einmal einer, der Kronzeuge und Opfer war, dazu angehört wird. Er bleibt fremd in der Mitte einer Gruppe, die den Krieg und die offizielle Erinnerung daran nur benutzt, um sich noch stärker in ihre Lebenslügen einzuspinnen.
Was macht den Menschen aus, fragt sich der Ich-Erzähler in der zweiten Geschichte/Reflexion, Sich im Kreis drehen. Mit ihr werden Leserinnen und Leser aus dem gutbürgerlichen Kreis mitten ins Lagerleben geworfen. Was macht den Menschen aus? Die Latrinen und der Latrinengang. Krude, erschreckend führt Hyvernaud eine kleine Gruppe von französischen Gefangen in ihre schieren Körperlichkeit vor. Atemberaubend kunstvoll schlägt er mitten im Gestank menschlicher Ausdünstungen den Bogen zu der geistigen Verfassung von Menschen in diesem Stumpfsinn des Lageralltags. Zu kleinen Marotten, zu ihren Bedürfnissen, zu Vorlieben und Vorurteilen. Zu Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg. Und wieder zu den Latrinen. So bewegt man sich, von der Baracke hinaus, in der Baracke hin und her und in Gedanken im Kreis herum.
Warum tut man das? Um nicht verrückt zu werden. Falls man es nicht sowieso schon ist, denn ist nicht auch die Welt verrückt? In So tun als ob werden Behauptungen aufgestellt, über den gang der Geschichte, über den Krieg, der das alles verursacht hat. Es ist ein illusionsloser Blick auf die Ereignisse 1939 und 1940, der Blick eines Betroffenen und von einem, der nicht sicher ist, ob er und die Männer um ihn herum noch als ‚normal’ gelten können oder ob sie aus dem schrecklichen Alltag schon in den Wahnsinn gedriftet sind. Mit diesem Kapitel ist der Tiefpunkt der Depression erreicht. Grausam schlüssig, emotional und denkerisch herausfordernd zugleich, kann man sich ihm beim Lesen kaum entziehen. Daß es so präzise formuliert ist, macht die Lektüre nicht leichter.
Der vierte Teil führt die Leserinnen und Leser zu den Vorstellungen, die im kleinbürgerlichen Vorkriegs-Frankreich über Krieg und Heldentum herrschten und damit zu einer Auseinandersetzung über einen wesentlichen Vertreter der national-französischen Ideologie, Ihr ach so verehrter Péguy. Man muß Péguy und seine Bedeutung nicht kennen, um Hyvernaud zu verstehen. Zum einen liefert er in seiner ausführlichen und immer wütender werdenden Rede alle wesentlichen Informationen, zum anderen steht Péguy beispielhaft für all jene, die in verantwortungsloser Weise das Sterben für eine Nation verklären. Hyvernaud verstößt hier gegen jede Regel. Er demaskiert Sozialromantik, kleinbürgerliche Aufstiegsmythen und die geistigen Eliten, die seit zwei Generationen versagt haben.
Seine Überlegungen dazu sind nie losgelöst vom aktuellen Geschehen in der Baracke. Was in der dritten ‚Geschichte’ an Alltagsabläufen beschrieben wurde, bildet jetzt den Hintergrund. Während gekocht wird, von Frauen erzählt, deutsche Vokabeln hergebetet oder anzügliche Lieder gesungen, wütet der Ich-Erzähler denkerisch gegen den - und diejenigen, die das alles verursacht haben.
Hätte man etwas dagegen tun können? Hätte man eingreifen können, Verantwortung zeigen? Und worin besteht Verantwortung? Diese schwierigste aller Fragen ist die heimliche Grundlage der letzten Geschichte, Der schöne Beruf. Der Ich-Erzähler hatte einen sogenannten ‚schönen Beruf’, er war Lehrer. Die Gedanken kreisen um Unterrichten, um Lehrpläne und Kollegen, um schließlich bei einem Schüler zu landen. Er wurde als Widerstandskämpfer ermordet.
Hatte das einen Sinn? Wieder wandern die Gedanken und sie sind ebenso schlüssig und eigen zugleich, wie zuvor. Eingebettet ist diese letzte Reflexion in die Beschreibung, wie im benachbarten Lager der russischen Soldaten Gruppen von Gefangenen Stunde um Stunde Tote in Gruben beerdigen. Ein literarisch brillanter Einstieg, ein letzter Paukenschlag in einer Abfolge von Texten, die in Konzeption wie Ausführung mehr als reich an solchen Schlägen sind.
Aufgerüttelt haben sie nur wenige. Hyvernaud schrieb diese autobiografisch geprägten Texte vier Jahre nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, konnte sich mit seinem eigenen Blick auf diese Zeit aber nicht durchsetzen. Er hat es in seiner dritten Geschichte schon erkannt. „Immerhin, es ist schon mal was, wenn man begreift, daß man nichts begreift, ... . Auf diese Weise läßt man der Geschichte wenigstens ihren pathetischen Charakter. Sie ist blind und unergründlich, die Geschichte. Man darf sich keine Fragen stellen.“
Beeindruckender Beitrag zur Anti-Kriegsliteratur, von einer ungewohnten Perspektive, unverändert aktuell.