OT: The Master of Ballantrae. A Winter’s Tale Zuerst erschienen als Fortsetzungsgeschichte in Scribner’s Magazine 1888/1889; in Buchform 1889
‚Master of Ballantrae’ ist der Titel des ältesten Sohns der schottischen Adelsfamilie Durrisdeer und Stevenson erzählt in seinem vorletzten Roman (und letzten vollendeten) eben die Lebensgeschichte eines ältesten Sohns. Die Figur und ihr Handeln beherrscht aber zugleich die gesamte Familiengeschichte bis zum tragischen Untergang, insofern ist dieser ‚Master’ zugleich derjenige, in dessen Händen das ganze Schicksal dieser Familie liegt, ein Herrscher in mehrfachre Hinsicht also.
Unser ‚Master’ heißt James und er lebt mit seinem Vater, seinem jüngeren Bruder Henry sowie einer jungen, hübschen und vermögenden Kusine Alison Graeme im Familiensitz der Durrisdeers. Wir schreiben das Jahr 1745. Die Landung des Stuart Erben Charles mit seinem Anspruch auf den englischen Thron stellt die Familie Durrisdeer stellt die Familie vor ein Problem, dem viele Adelsfamilien damals ausgesetzt waren, nämlich auf welche Seite man sich schlagen sollte. Da es in Durrisdeer zwei Söhne gibt, scheint die Sache einfach. Der älteste hält es mit dem englischen König, das sichert den Familienbesitz, der jüngste reitet für die Stuarts. Sollten sie verlieren, kann man auf ihn leicht verzichten, sollten sie gewinnen, kann man beweisen, daß man eigentlich immer auf ihrer Seite stand.
Dieser vernünftige Plan - dem realhistorisch nicht wenige schottische Adelsfamilien folgten - scheitert an der Abenteuerlust von James. Und am Schicksal. James läßt eine Münze entscheiden, welcher der Brüder sich auf die Seite der Stuarts schlagen soll. Zum Entsetzen seines Vaters, des jüngeren Bruders sowie Alisons, die ihn liebt und ihn heiraten soll, fällt die Münze zu seinen Gunsten. Der Master verläßt Durrisdeer und fällt bei Culloden.
Henry übernimmt Durrisdeer. Der Besitz steht finanziell sehr schlecht da, es wird bald deutlich, daß nur Alisons Geld ihn retten kann. Nach einigem Zögern willigt sie ein, Henry zu heiraten. Die Ehe wird nicht besonders glücklich. Aber auch die Bevölkerung in den umliegenden Dörfern ist Henry gegenüber nicht wohlgesinnt. Er gerät bald in den Verdacht, daß er aus Feigheit zurückgeblieben ist, damit schuld am Tod von James und daß er darüberhinaus dessen Braut gestohlen habe.
Damit ist das Unglück aber noch keineswegs zuende. Vier Jahre nach Culloden taucht ein Bote von James auf. Der Master ist keineswegs in der Schlacht gefallen, im Gegenteil gelang ihm die Flucht. Inzwischen lebt er in Paris und braucht Geld. Familiensinn, Bruderliebe und Gewissenbisse veranlassen Henry dazu, zu zahlen. Der Master erweist sich als maßlos. Als der Familienbesitz kurz vor dem Ruin steht, verweigert Henry zum erstenmal die Zahlungen. Das läßt sich der Master nicht gefallen, er kommt nach Schottland zurück. Das aber ist nur das Ende des zweiten Akts einer inzwischen grauslichen Familiengeschichte, die wie eine klassische Tragödie erst im fünften ihr böses Ende findet.
Erzählt wird das alles vom Verwalter der Duries, Ephraim Mackellar, der als junger Mann in Henrys Dienste kam und im Lauf der Zeit zu seinem Vertrauten und Freund wird. Mackellar ist ein ausgezeichneter Beobachter, akribisch, zugleich aber ein geborener Untergebener. Sein Blick auf die Welt ist vom strenger christlicher Moral geprägt. Sein Verhältnis zu Henry ist bestimmt von einer Mischung aus väterlichem Beschützerinstinkt, Bewunderung dafür, wie er lange Jahre sowohl seine unglückliche Ehe als auch die psychischen Quälereien durch seine Bruder erträgt sowie wahrscheinlich echte Liebe. Zugleich kann er sich auf Dauer der bösen Faszination, die vom Master ausgeht, nur schwer entziehen, was zu zusätzlichen Höhepunkten in einer Geschichte führt, die ohnehin stark vom spannungsreichen Verhältnis zwischen den Figuren lebt.
Mackellars Blick ist aber nicht der einzige, den Stevenson überliefert. Die Geschichte spielt keineswegs nur in Schottland, sie führt um die halbe Welt. Ihr Ende findet sie in den Wäldern irgendwo an der (heutigen) US-amerikanischen-kanadischen Grenze. Was Mackellar nicht persönlich miterlebt, findet er in den Memoiren eines Freundes des Masters, die er getreulich überliefert und nur am Ende ein wenig kommentiert. Das gibt dem Ganzen den Anschien des Dokumentarischen und erhöht die angebliche Authentizität.
Wenn man nur den Handlungsablauf betrachtet, scheint Authentizität auch wirklich vonnöten. Der schottische Aufstand, Leben an Bord eines Piratenschiffs, die Wälder Nordamerikas, wieder Schottland, Indien und am Ende wieder Nordamerika, zwei Brüder, die sich bis aufs Blut bekämpfen, man wagt es kaum zu glauben. Aber man tut’s.
Die Geschichte ist bezwingend. Sie läuft in einem hohem Tempo ab, sie ist sehr, sehr spannend, eine Aneinanderreihung extremer Situationen. Sie ist grausam, von unschlagbarer Logik. Vor allem aber ist sie kalt. Den Untertitel ‚Eine Wintergeschichte’ trägt sie zurecht. Die schlimmsten Situationen, die größten Höhepunkte, sie alle finden in Eiseskälte statt, in Frostnächten, in denen alles tot und starr ist, und nur der tödlicher Haß noch brennt. Keine der Figuren ist rundum sympathisch, lieben kann man sie an keiner Stelle. Man kann nur mitleiden. Die zeitliche Entfernung, der Roman ist schließlich über 120 Jahre alt, läßt das nur stärker hervortreten.
Ein Roman nicht nur für LiebhaberInnen älterer Literatur, schön, daß er jetzt in einer ganz neuen deutschen Übersetzung mit Nachwort, Kommentaren sowie Stevensons Äußerungen zum 'Master' vorliegt.