"Footnotes in Gaza" - Joe Sacco [Comic]

  • Leider noch keine deutsche Übersetzung.


    Am 3. November 1956, sterben in Khan Younis im Süden des Gazastreifens, 275 palästinensische Männer, darunter 140 Einwohner des Flüchtlingscamps und 135 Einwohner der Stadt Khan Younis. Sie wurden Angehörigen der israelischen Streitkräfte (IDF) zusammen getrieben, an die Wand gestellt und erschossen. Am 12. November sterben 111 palästinensische Männer im Alter von 16 bis 60 im Rahmen einer Screening Operation der IDF in Rafah, einer Stadt bzw. eines Flüchtlingslagers in unmittelbarer Nähe zur ägyptischen Grenze. Handelt es sich um eine irrtümliche Tötung vieler Zivilisten in einer unübersichtlichen Situation oder um ein willkürliches Massaker an wehrlosen Flüchtlingen? Die Berichte sind, soweit vorhanden, widersprüchlich. In der Geschichtsschreibung sind beide Ereignisse kaum mehr als Fußnoten in einem UN-Bericht über einen Nebenkriegsschauplatz der Suezkrise, die zu diesen Zeitpunkt praktisch schon vorbei war. Daher der Titel des vorgestellten Buches.


    Im November 2002 und im März 2003 reiste Joe Sacco nach Khan Younis und Rafah, um mit Hilfe seines Übersetzers Amed mit Zeitzeugen zu sprechen und zu rekonstruieren, was damals passiert ist. Zur weiteren Recherche beschäftigte er außerdem zwei Israelis, die für ihn die israelischen Archive durchsuchten und mit israelischen Zeitzeugen oder deren Angehörigen sprachen. Außerdem zog er die U.N. Archive in NY und im UNWRA Hauptquartier in Gaza zur Rate.


    In seinem journalistischen Comic setzt der Autor die Ereignisse vor 50 Jahren mit den Ereignissen von heute in Verbindung. In seinem Vorwort zitiert er Abd al-Aziz ar-Rantisi, den Generalkommandanten der Hamas, der 1956 in Khan Younis einen Onkel verlor: "Es hinterließ eine Wunde in meinem Herz, die niemals heilen kann. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte und ich weine fast. Taten dieser Art können niemals vergessen werden....[Sie] pflanzten Hass in unsere Herzen."


    Die Rekonstruktion der Ereignisse erweist sich als gar nicht so einfach. Viele der Einwohner, die damals die Ereignisse miterlebt haben, leben heute nicht mehr, oder sind nicht aufzufinden. Erinnerungen können verfälscht sein oder sich mit anderen Ereignissen vermischt haben. Viele Betroffene sind bereit, mit dem Autor zu reden oder helfen, Kontakte herzustellen. Die Interviewpartner weichen jedoch häufig vom Thema ab, erzählen von 1948 oder von 1967. Manche reagieren wütend und fragen sich, was sie davon haben werden, mit dem Autor zu sprechen. Sie sagen, dass sie schon mit vielen Journalisten gesprochen haben und sich nie etwas für sie geändert hat. Andere wollen anonym bleiben aus Angst vor Vergeltungsschlägen der Israelis. Viele wollen nicht über die Vergangenheit reden, sondern über ihre gegenwärtigen Probleme. Über ihre Häuser, die von Israelis zerstört wurden, über die tägliche Bedrohung durch israelische Raketen und Schüsse von den Wachtürmen, über endloses Warten an den Checkpoints, über Arbeitslosigkeit, ihre Enttäuschung ihren Kindern keine Zukunftsperspektiven bieten zu können. Der Autor zeigt diese Seiten des Lebens im heutigen Gaza, aber auch "normales" Leben, belebte Straßen, Gedränge auf dem Marktplatz, Kinder, die die Schule verlassen. Dadurch entsteht ein komplexes, zusammenhängendes Bild, das von 1948 bis März 2003 reicht, dem Vorabend des Irak-Krieges, von dem die Palästinenser sich einen Sieg Saddam Husseins und eine Verbesserung ihrer Lage erhoffen.


    Der Autor zeichnet sich, wie auch schon in "Palästina" selbst in die Bilder und zeigt dadurch nicht nur, wie die Palästinenser auf ihn reagieren, sondern auch wie sich seine Reaktionen von denen der Palästinenser unterschieden, z.B. wenn Amed Detonationen verschläft, während er sich schlaflos im Bett wälzt, oder wenn er sehr viel länger braucht, um sich nach einem Beschuss wieder zu beruhigen als seine palästinensischen Freunde.
    Gut gefallen hat mir auch die nuancierte Darstellung von Palästinensern, über die bei uns wohl nur als "Terroristen" berichtet würde. Zum Beispiel Khaled, der Widerstandskämpfer der Fatah, der palästinensische Kollaborateure getötet hat und auch bei anderen "Operationen" gegen Israel dabei war, der aber gegen Selbstmordattentate ist und sich vorstellen kann, mit Israelis zusammen zu leben, obwohl er sie hasst. Khaled sieht man immer nur mit müden, roten Augen. Er wird vom israelischen Geheimdienst gesucht und hat seit Jahren nicht mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen. Er schläft jede Nacht in einem anderen Ort, rechnet jederzeit damit, vom israelischen Geheimdienst getötet zu werden. Gleichzeitig macht er sich Sorgen um seine Frau und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass seine Kinder in Frieden aufwachsen können.


    Am Ende bleibt unklar, was wirklich damals im November 1956 passiert ist. Es gibt viele Übereinstimmungen, aber auch immer wieder Abweichungen bei den Aussagen der Augenzeugen. Die israelischen Researcher haben Erklärungen und Rechtfertigungen (z.B. von Golda Meir und Moshe Dayan) für die Ereignisse in israelischen Archiven gefunden, die ebenfalls voneinander abweichen und die beim Autor den Eindruck hinterlassen haben, dass etwas vertuscht werden soll. In einem ausführlichen Anhang sind Auszüge aus diesen Dokumenten und auch Interviews des Autors mit Mordechi Bar-On, Moshe Dayans chef du bureau in 1956, sowie Sprechern der IDF, so dass man sich selbst ein Bild machen kann. Letztendlich muss man sich selbst entscheiden, wem man glauben will.


    Was mir erst am Ende des Buches so richtig bewusst geworden ist, ist, dass der Autor in erster Linie nicht den Hass der Palästinenser zeigt, wie es vielleicht das Eingangszitat Ar-Rantisis vermuten lässt, sondern die Angst. Die Angst der Männer damals in 1956, die Angst der Frauen und Kinder um ihre Männer, Väter, Brüder und die Angst heute, davor, dass das Haus zerstört wird, Angst um die Kinder, Angst die nächste Miete nicht zahlen zu können, Angst, dass es niemals besser wird.


    Noch etwas zu den Bildern. Der Autor zeichnet die Bilder ganz altmodisch mit Tinte und Feder. Im Vergleich zu "Palästina", wo die Gesichter der Menschen fast schon Karikaturen waren, sind die Menschen in "Footnotes in Gaza" weniger verzerrt gezeichnet. Für eine Seite braucht der Autor ca. 2-3 Tage, d.h. im Monat schafft er etwa zehn Seiten, was erklärt, dass er mehrere Jahre gebraucht hat, um das Buch fertigzustellen.


    Das Buch hat mich sehr betroffen gemacht und ich kann jetzt auch langsam nicht mehr. Das Schlimme an diesen Comic-Reportagen ist, dass Texte mit der Zeit verblassen, aber die Bilder bleiben.


    Ich stelle hier die englischsprachige Ausgabe zwei Mal rein und ersetze sie im ersten Beitrag durch die deutschsprachige Ausgabe, falls diese jemals erscheint. Die englische Ausgabe ist ein sehr schöne gestaltetes Hardcover mit Schutzumschlag.
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  • Die Maus-Comics hatte ich auch schon mal ins Auge gefasst. :-)


    Was "Footnotes in Gaza" angeht, würde ich empfehlen, zuerst "Palestine" zu lesen, weil der Autor zwischen den beiden Büchern eine Entwicklung durchmacht und hin und wieder in "Footnotes" auch auf Erfahrungen aus "Palestine" anspielt. Allerdings ist "Footnotes" keine direkte Fortsetzung von "Palestine", sondern kann auch für sich alleinstehend gelesen werden.