Ricardo Piglia: Brennender Zaster

  • Der Verlag Klaus Wagenbach nennt Ricardo Piglia den wichtigsten Repräsentanten der argentinischen Gegenwartsliteratur. Der Autor selbst beginnt 1997 sein Nachwort zu „Plata Quemada“ so: „Dieser Roman erzählt eine wahre Geschichte. Es handelt sich um einen nicht sehr bedeutenden und längst vergessenen Fall aus der Polizeichronik …“ Das dürfte eine ironische Untertreibung sein, denn der „Fall“ hat seinerzeit etwa zwanzig Menschen das Leben gekostet, sogar dem Polizeichef von Uruguay. Er wirft ein grelles Schlaglicht auf die Querverbindungen zwischen Gewaltverbrechen, Politik und Staatsorganen im damaligen Argentinien. Und er ist ein frühes Beispiel, wie eine Blutorgie, eine wahre Schlacht zwischen Killern und Polizei unmittelbar zum medialen Großereignis wird.


    Buenos Aires 1965. Peron ist im Exil. Argentinien versucht es wieder einmal mit bürgerlicher repräsentativer Demokratie. Es gärt im Land, die sozialen Gegensätze sind groß. Ein Raubüberfall auf einen Geldtransport wird vorbereitet. Die Drahtzieher: ein städtischer Beamter und ein ruinierter Tangosänger, dann ein Mittelsmann zwischen Schwerkriminellen und Staatsorganen, ferner Angehörige der Polizei. Es geht um umgerechnet 600.000 Dollar, nach heutigem Wert einige Millionen Euro.


    Zur Ausführung werden angeworben: als Anführer ein routinierter Räuber und Mörder namens Malito sowie drei weitere junge Männer, alle intelligent und mit Knasterfahrung. Mereles, der Fahrer des Fluchtautos, ist von Beruhigungsmitteln abhängig. Die beiden anderen, Brignone und Dorda, ein schwules Paar, nehmen Kokain und Amphetamine. Der Überfall gelingt, es gibt mehrere Tote, darunter ein Kind am Straßenrand. Der Verfolgungsdruck wird bald so groß, dass das Quartett über den La Plata nach Uruguay flüchtet und sich dort versteckt. Sie nehmen die Beute mit und wollen sie nicht mehr mit den Hintermännern teilen. Damit wird ihre Lage noch prekärer. Zur Blutspur kommt der Geruch des Geldes. Die Polizei von Montevideo ermittelt intensiv und kommt ihnen näher.


    Malito verschwindet auf ungeklärte Weise. Die drei anderen Pistoleros wechseln den Unterschlupf und verbarrikadieren sich mit dem Geld und großen Mengen an Munition und Drogen in einer Etagenwohnung. Ihre Lage ist aussichtslos. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, doch sie ergeben sich nicht und verwickeln mehr als dreihundert Polizisten in einen fünfzehnstündigen Kampf, der noch viele Tote fordert. Tränengas bleibt wirkungslos. Mühsam bohrt die Polizei Löcher in Wände und Decken, wirft Brandbomben. Drinnen haben sie schon alle geraubten Banknoten verbrannt und die Asche auf die Belagerer hinabregnen lassen. Nur Dorda wird bei Piglia lebend gefasst. Ein Jahr später soll er in Buenos Aires bei einer Gefängnisrevolte von einem Polizisten erschossen worden sein. (Folgt man allerdings Wikipedia, kamen Brignone und Dorda im Kampf um und Mereles starb kurz darauf im Krankenhaus.)


    Piglia stützt sich auf viele Dokumente. Er gibt den Verlauf des Geschehens im Ganzen recht getreu wieder. Die Täter sind bei ihm menschliche Individuen, glaubwürdig, unverwechselbar. Er glorifiziert sie nicht. Es bleiben brutale Killer, die scheußliche Verbrechen begehen. Und doch kommen wir ihnen nahe - in ihrem Leid, ihrem Scheitern sind sie uns sehr nahe … Dorda wird am intensivsten dargestellt. Er ist abergläubisch, hört Stimmen, hat die ganze Karriere von Erziehungsheim, Knast und Psychiatrie schon hinter sich. Im Roman kommen er und Brignone oft unmittelbar und authentisch zu Wort. Die letzte Fluchtwohnung war verwanzt und ihre Gespräche dort wurden vom Polizeifunk direkt abgehört und aufgezeichnet.


    Wir schreiben 1965! Die Belagerung und Erstürmung der Wohnung in Montevideo ist einer der ersten Fälle, in denen der gesamte Polizeieinsatz in voller Länge im Fernsehen live übertragen wird. In der Wohnung läuft ein Fernsehgerät, auf dessen Schirm die Pistoleros sich selbst unmittelbar als Killer im Drogenrausch erleben – die Echtzeit frisst ihre Kinder.

    Ein Zufall bewirkte, dass Piglia auf diesen Stoff stieß. Er traf 1966 in einem Zug die letzte Geliebte von Mereles. Sie hatte wegen Mitwisserschaft gerade sechs Monate abgesessen, war auf dem Weg nach Bolivien und erzählte ihm viele Stunden lang von der Bande. Piglia: „ … und ich hörte ihr zu, als hätte ich es mit der argentinischen Version einer griechischen Tragödie zu tun.“ Beim Lesen seines großartigen Romans hatte auch ich diesen Eindruck.