Titel der englischsprachigen Originalausgabe: "Palestine"
Bei diesem Buch handelt es sich um einen Sammelband, in dem alle neun Comics des Autors über seine Zeit in den besetzen Gebieten zusammengefasst sind. Es handelt sich um "graphic non-fiction", deshalb habe ich mich entschieden, das Buch unter "Sachbücher" zu stellen. Tatsächlich werden erstaunlich viele Informationen vermittelt. Man kann den Comic gut ohne Vorwissen lesen, der Autor lässt sich alles erklären und Politiker oder andere Persönlichkeiten wie Oum Koulsoum oder Gott sind mit kleinen Labels versehen.
Im Comic beschreibt der Autor seine Erlebnisse in den zwei Monaten, die er Ende 91/Anfang 92, während der 1. Intifada, im Westjordanland und in Gaza verbrachte. Der Autor malt sich selbst ins Bild als amerikanischen Journalisten, der durch die palästinensischen Dörfer und Flüchtlingslager reist, Dabei legt er eine gehörige Portion Sarkasmus und Selbstironie an den Tag, wenn er immer wieder auf der Suche nach guten Bildern und Geschichten ist (ein Comic braucht schließlich eine ausreichende Portion "Bäng!") und ihm dabei oftmals gehörig die Knie schlottern. Zunächst besucht der Autor verschiedene Städte und Flüchtlingslager im Westjordanland. Das Taxi nach Jerusalem wird dabei zu seinem täglichen Rettungsaker, "nur 15 Minuten bis Jerusalem" sein Mantra. Die Palästinenser zerren ihn immer wieder in ihre Wohnzimmer, schieben ihm den Kerosinofen vor seine Knie und erzählen. Der Tee, der ihm dabei literweise eingefößt wird, wird bald zum Runnig Gag. Sie erzählen von Verhören, Misshandlungen, von Diskrimination, von Folterungen, von Gefängnisaufenthalten, von zerstörten Häusern, abgeholtzen Olivenbäumen und immer wieder von Kindern, Brüdern, Cousins, die sie verloren haben.
Und das hat er dann in schwarz-weiss schraffierte Bilder gefasst, die wiederum eine Fülle an Informationen, aber insbesondere auch Stimmungen vermitteln. Mal sind es ganzseitige Bilder, auf denen unheimlich viel passiert, z.B. wenn es um eine Demonstration geht oder ein Gefängnis, und dann auch wieder ganz kleine Bilder (z.B. bei einem Verhör mit Folter sind alle Bilder ganz klein und mit einem schwarzen Rahmen ungeben). Die Bildgröße und Form passt zu der Situation, die er schildert. Wenn die Leute vom Schmerz erzählen, einen Angehörigen verloren zu haben oder ihre eigenen Olivenbäume fällen zu müssen, dann zeichnet er nur die Gesichter. Dabei achtet er darauf, die erzählenden Palästinenser oder Opfer von denen sie berichten, immer mit Namen und Gesichtern zu versehen. Häufig gibt es nicht nur Sprechblasen, sondern auch zusätzliche Information am Rand. Immer wieder gibt es auch längere Texte, in denen historische oder politische Zusammenhänge erklärt werden oder statistische Daten genannt werden.
In der Mitte des Buches stellt sich bei dem Autor eine gewisse Übersättigung ein: noch ein palästinensches Wohnzimmer, noch mehr Tee, noch mehr leidvolle Geschichten, und auch ich war an einem Punkt, an dem ich dachte, dass ich es nicht ertragen kann, noch eine Seite weiterzublättern und noch eine weitere Geschichte zu hören. Ich habe mich dann zusammengerissen, schließlich muss ich die Geschichten nur lesen, es gibt andere Menschen, die sie täglich erleben. Und auch der Autor macht weiter. Er bekommt schließlich auch gesagt, wenn er das schon schlimm fand, dann soll er mal nach Gaza gehen, was er dann in der zweiten Hälfte des Buches auch macht. Während in Israel die Sonne scheint, scheint es in Gaza durchgehend zu regnen, und auch der Tee fließt wieder in Strömen. Die Geschichten sind dieselben, die Stimmung ist noch düsterer, noch hoffnungsloser, der Autor bleibt länger als geplant, schließt an die gebuchte offizielle UNRWA-Tour noch einen privaten Aufenthalt an, in der ein Palästinenser sein Gastgeber, Übersetzer und Tourguide wird. Eine tägliche Flucht nach Jerusalem ist hier nicht mehr möglich, der Autor freut sich über kleine Dinge, wie eine heiße Dusche im Haus eines UN-Mitarbeiters. Er verspricht, zwei Jahre später zurückzukehren.
Das Buch hat mich sehr berührt und erschüttert. Ich habe lange überlegt, ob ich es kaufen soll, denn es ist ja "bloß ein Comic". Ich habe im Nachhinein für den Comic länger gebraucht als für ein reines Textbuch mit vergleichbarer Seitenzahl. Es gibt einfach unheimlich viel zu sehen und zu lesen. Ich bin beeindruckt davon, wieviele Informationen man in dieser Form vermitteln kann. Ich habe mir die Fortsetzung "Footnotes in Gaza" schon bestellt, aber ich brauche jetzt erstmal eine Pause.
Über den Autor
Joe Sacco wurde in Malta geboren. Er studierte Journalismus an der Univerität von Oregon. Sein Comic-Buch Palestine über seine Zeit in den besetzten Gebieten wurde 1996 mit dem American Book Award ausgezeichnet. Mit seinem Comic Safe Area: Gorazde über seinen Aufenthalt in Bosnien gewann er 2001 den Will Eisner Award for Best Original Graphic Novel. Sacco zeichnet außerdem Comics für Details, Time magazine und Harper's. Mit Footnotes in Gaza erschien 2009 eine Fortsetzung zu Palestine.
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