"Die Sirenen von Bagdad" - Yasmina Khadra

  • Titel der französischen Originalausgabe: "Les Sirènes de Bagdad"


    Zum Buch
    Ein junger Student kehrt zu Beginn des Irakkrieges von Bagdad zurück in sein Heimatdorf Kafr Karam. Dort verläuft das Leben beschaulich und ruhig, bis plötzlich ein tödlicher Zwischenfall an einem Checkpoint dafür sorgt, dass die jungen Männer des Dorfes in Aufruhr geraten. Kurz darauf stürmen US-Soldaten die Häuser und zerren den alten Vater des Studenten halbnackt aus dem Schlafzimmer. Zutiefst in seiner Ehre verletzt, schlägt sich der junge Mann nach Bagdad durch und schließt sich den Dschihadisten an, denen er sich fremd fühlt - ihr Hass aber ist ihm vertraut. Schließlich wird er nach Beirut geschickt, zur Vorbereitung auf einen Spezialeinsatz, so simpel in der Durchführung, so grässlich das Resultat.


    Über den Autor
    Yasmina Khadra ist das Pseudonym des 1956 geborenen algerischen Autors Mohammed Moulessehoul. Als hoher Offizier der algerischen Armee konnte er sein Pseudonym erst lüften, als er im Dezember 2000 mit seiner Familie ins Exil nach Frankreich ging. Er erfand die Figur des Commissaire Llob, den Helden von fünf Kriminalromanen, deren letzte drei in Frankreich herauskamen und eine Einheit bilden, eine Trilogie zum Thema Bürgerkrieg und seiner Hintergründe. Zur Trilogie, die mit Morituri beginnt, schreibt Yasmina Khadra: "Die Trilogie will eine möglichst getreue Analyse der Tragödie sein, die mein Land erschüttert. Khadras Romane sind in siebzehn Sprachen übersetzt.


    Meine Meinung
    Nachdem mein Interesse am Irak durch den Blogger Salam Pax geweckt wurde, habe ich mich aufgemacht, meinen ersten Roman von Yasmina Khadra zu lesen. Wie auch in vielen anderen Romanen des Autors geht es auch hier um die Frage, was Menschen dazu bringt sich zu entschließen, zum Selbstmordattentäter zu werden. Dabei heisst der Autor ganz sicher kein Attentat gut, aber er macht die Entscheidungen der Menschen nachvollziehbar.


    Die Geschichte wird von einem im ganzen Buch namenlos bleibenden jungen Mann in der Ich-Form erzählt. Der Ich-Erzähler muss nach der Invasion der Amerikaner sein Studium der Literaturwissenschaft an der Universität von Bagdad beenden muss und kehrt in sein Dorf Kafr Karam zurück. In Kafr Karam gibt es keine Arbeit für junge Männer, keine Zukunftsperspektiven, keine Ablenkung. Der Bus in die Stadt, hält schon lange nicht mehr im Dorf. Der Lebensunterhalt der Familie des Studenten scheint, nach einem Unfall des Vaters, ausschließlich durch die Schwestern des Studenten bestritten zu werden. Hier erfolgt, meiner Meinung nach, schon eine erste Kränkung - keine Aussicht auf eine Arbeit zu haben und immer wieder Geld von der Schwester annehmen zu müssen.


    Der Krieg erhält Einzug in das Leben der Dorfbewohner als ein geistig behindertes Dorfmitglied an einem Checkpoint erschossen wird. Der Ich-Erzähler wird schwer traumatisiert. Kaum wieder aufgerappelt, erfolgt ein weitere Traumatisierung, als die Amerikaner eine Hochzeitsfeier bombardieren, weil sie terroristische Aktivitäten vermuten und viele Menschen und zwar überwiegend Frauen und Kinder sterben. Nachdem sein Vater bei einer nächtlichen Hausdurchsuchung halbnackt aus dem Schlafzimmer gezerrt wird, fühlt sich der junge Mann so gedemütigt, dass er beschließt, sein Elternhaus zu verlassen und sich zu rächen. Dabei wäre es zu einfach, anzunehmen, dass der junge Mann zum Terroristen wird, weil er durch die Entblößung der Geschlechtsteile seines Vaters vor seinen Augen seine Ehre verloren hat. Der Autor stellt gut dar, wie der junge Mann in eine Abwärtsspirale aus Hoffnungslosigkeit, Ablehnung, Demütigungen und Traumatisierungen gerät, die seinen Hass auf andere, aber auch auf sich selbst nähren. Dabei ist der Weg in den Terrorismus keineswegs vorgeschrieben, der Autor führt auch immer wieder andere Personen ein, die sich anders entschieden und es schaffen, ihrem Leben selbst unter widrigen Bedingungen einen Sinn zu geben. Ich habe mir die ganze Zeit gewünscht, dass irgendetwas passiert, dass den Ich-Erzähler noch die Kurve kriegen lässt und zumindest, solange er kein Menschenleben auf dem Gewissen hatte, schien es möglich...


    *Spoiler Ende*
    [sp]...und letztendlich lässt der Autor ihn auch die Kurve bekommen, auch wenn es für den Ich-Erzähler selbst zu spät ist, reisst er doch zumindest nicht andere mit ins Unglück.[/sp]


    Eine völlig neue Sichtweise wurde mir dadurch vemittelt, dass die terroristischen Anschläge in diesem Buch, meiner Meinung nach, nicht religiös motiviert sind. Ok, in Bagdad schlagen sich Schiiten und Sunniten die Köpfe ein und ja, der Ich-Erzähler möchte zum Märtyrer werden, aber nicht, weil er denkt, dass ihm dieses von Gott auferlegt wurde, sondern weil er keine andere Möglichkeit sieht, mit seinem Hass umzugehen. Es geht nicht darum, Ungläubige oder Andergläubige im Namen des Islam umzubringen, sondern darum, in einem Land zu wohnen, in dem einige der frühesten Hochkulturen der Menschheit entstanden und vom Westen immer wieder mit Herablassung und Arroganz behandelt zu werden. In Kafr Karam gab es ein funktionierendes Sozialsystem. Für Arbeitslose, Kranke, geistig Behinderte wurde gesorgt, Umgangsformen wurden beachtet, es wurde sich gegenseitig geholfen, die Leute sind anständig mit einander umgegangen. Um dann von amerikanischen Soldaten angebrüllt und wenn schon nicht erschossen, dann mit der Nase in den Staub gedrückt und wie räudige Hunde behandelt zu werden.


    Ich bekomme gerade nicht in Worte gefasst, was ich meine. Im kleineren Rahmen habe ich diese Haltung, gegen die sich die Iraker im Buch auflehnen, damals in meinem vorherigen Job erlebt. Ich hatte sehr viele arabische und persische Kunden, die von meinem Ex-Chef oft mit den Worten "Da ist wieder einer Deiner Kameltreiber für Dich" zu mir durchgestellt wurden. Unabhängig davon, dass diese Kunden erfolgreiche Unternehmer waren, die wahrscheinlich eine bessere Schuldbildung hatten als er selbst. Wenn ich etwas aus dem Buch mitnehme, dann, dass es nicht nur um Religion geht, sondern eben auch um aufgestaute Frustration gegenüber dieser Haltung arabischen Menschen gegenüber.


    Das Buch wird eines meiner Highlights dieses Jahr werden. Ich kann es sehr empfehlen und werde die anderen Romane des Autors auch noch lesen.
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  • Danke für die tolle, beeindruckende und vor allem überzeugende Rezension, Delphin! :wave


    Zitat

    Original von Delphin
    Das Buch wird eines meiner Highlights dieses Jahr werden. Ich kann es sehr empfehlen und werde die anderen Romane des Autors auch noch lesen.


    Bei deiner Begeisterung und wenn dieses Buch sogar dein Highlight des Jahres wird, dann werde ich wohl nicht darum rum kommen, es auch zu lesen. Auf der Wunschliste ist es gerade gelandet, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es dort lange bleiben wird!

  • Delphin, magst du im Threadtitel noch ein "r" nachtragen beim Familiennamen? Sehr zu empfehlen von Khadra ist übrigens "Die Schuld des Tages an die Nacht".

  • Zitat

    Original von mankell
    Delphin, magst du im Threadtitel noch ein "r" nachtragen beim Familiennamen? Sehr zu empfehlen von Khadra ist übrigens "Die Schuld des Tages an die Nacht".


    Oooops. Danke!

    "Die Schuld des Tages an die Nacht" will ich auch noch lesen. Und "Die Schwalben von Kabul". "Die Attentäterin" habe ich vorhin angefangen und schon halb durch. :wow


    Ich würde ja auch gerne die Biographie des Autors lesen, aber leider gibt es sie nur auf Französisch und mein Schulfranzösisch reicht nicht, um ein ganzes Buch zu lesen.

  • Zitat

    Original von Delphin
    Nachdem mein Interesse am Irak durch den Blogger Salam Pax geweckt wurde, habe ich mich aufgemacht, meinen ersten Roman von Yasmina Khadra zu lesen. Wie auch in vielen anderen Romanen des Autors geht es auch hier um die Frage, was Menschen dazu bringt sich zu entschließen, zum Selbstmordattentäter zu werden. Dabei heisst der Autor ganz sicher kein Attentat gut, aber er macht die Entscheidungen der Menschen nachvollziehbar.


    Okay, okay, ich kann ja eine Sammelbestellung aufgeben, zusammen mit dem Buch von Salam Pax.


    Vielen Dank für die interessante Rezi. Ich habe schon einige Bücher von Yasmina Khadra im SUB, da sie mich thematisch ansprechen.


    Zitat

    Wie auch in vielen anderen Romanen des Autors geht es auch hier um die Frage, was Menschen dazu bringt sich zu entschließen, zum Selbstmordattentäter zu werden. Dabei heisst der Autor ganz sicher kein Attentat gut, aber er macht die Entscheidungen der Menschen nachvollziehbar.


    Voriges Jahr habe ich die Mini-Serie Generation Kill von David Simon gesehen, die auf dem Tasachenbericht und gleichnamigen Buch des "embedded" Reporters Evan Wright beruht. Sie ist *offensichtlich* also aus der Sicht der Amerikaner dargestellt, aber während dem Ablauf der Ereignisse sieht der Zuschauer immer wieder Szenen, die drastische Konsequenzen für die Iraker haben werden:


    Bomben mit falschen Zieldaten, beruhend auf falschen Informationen, bei der Frauen und Kinder getötet werden; Autos, die an Straßensperren nicht anhalten und beschossen werden und die Toten offensichtlich Zivilisten, manchmal mit Kindern, waren; Hilfe sollte Irakern gewährt werde, wenn sie sich ergeben, aber dann kommt wieder ein anderer Befehl der Militärführung und die Einheit muss die Menschen dahin zurückschicken, wo sie hergekommen sind, und wo sie möglicherweise als Verräter getötet werden.


    Nach einem Feuergefecht haben die amerikanischen Soldaten nach Papieren der getöteten Iraker gesucht, die sie angegriffen hatten, und fanden syrische und jordanische Pässe und Studentenausweise. Da ist bei einigen Amerikanern auch schon der Groschen gefallen, dass diese Studenten in ihrer Uni sitzen würden, wenn sie selber nicht in den Irak gekommen wären, und sie den Terror, den sie angeblich bekämpfen sollen, selber mit verursachen.


    Die letzte Episode von "Generation Kill" heißt "Bomb in the Garden" und meint sicher nicht nur die eine scharfe Bombe in einem Vorgarten in Bagdad, sondern ist eine Metapher für das ganze Land, dass voller möglicher Bomben, auch in Form von Hass von Menschen steckt, der erst durch das Eintreffen der Amerikaner und ihrer "Unachtsamkeit" (falls man dieses Wort in Zusammenhang mit Krieg benutzen kann) hervorgerufen wurde.


    Der gewählte Weg des Protagonisten in dem von Dir vorgestellten Buch baut sich auch anhand einer Kette von Ereignissen auf, die sein Handeln aus seiner Sicht wahrscheinlich nachvollziehbar machen.



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