21. Dezember 2010 von Alice Thierry
Nächstes Jahr nicht wieder
Es war nur ein kleines Bäumchen. Mit Nadeln aus Kunststoff und acht Zweigen. Er hatte sie beim Auspacken gezählt. Auf dem Plastikfuß stand "Made in China", aber immerhin waren elektrische Kerzen dran. Nur das Netzteil fehlte. Er hatte mehrmals in der Schachtel nachgesehen. Im Laden hatten sie keinen Ersatz, also blieb der Baum dunkel. Egal.
Er stellte ihn auf den Schreibtisch vor die Fotografien. So konnte er ihn auch vom Bett aus gut sehen. In der Werkstatt hatte er aus Kupferdraht kleine Sterne gelötet. Die hatte er an die Zweige gehängt. Voilà ein Weihnachtsbaum, keiner wie bei den Eltern zu Hause, aber besser als nichts. - Er gefiel ihm trotzdem nicht.
Als er vom Mittagessen kam, leuchtete die Sonne durchs Fenster und auf den Schreibtisch. So angeleuchtet sah das Bäumchen doch ganz nett aus.
Eine halbe Stunde später, als er auf dem Bett lag und eine Zeitschrift durchblätterte, schaute sein Nachbar Ronny vorbei. "Fröhliche Weihnachten", sagte Ronny und lehnte sich an den Türstock. "Läuft nix in der Kiste?" Ronny deutet auf den Fernseher. "Der übliche Schrott wie jedes Jahr", antwortete er, ohne die Zeitschrift wegzulegen.
"Kommste mit in den Gottesdienst?"
"Nee, bin gleich nach dem Abi aus der Kirche ausgetreten. Und auf das Geheul vom Chor habe ich sowieso keine Lust." "Na denn." Ronny tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn. "Bis später."
Nachdem Ronny gegangen war, legte er die Zeitschrift weg. Er kannte alle Artikel, bis auf die über Schwangere mit Schlafstörungen und das Sexualleben von Vampiren. Die interessierten ihn nicht. Um die Langeweile zu vertreiben, drehte er sich auf die andere Seite und versuchte zu schlafen.
Um 16.30 Uhr war es so dunkel, dass er den Baum hätte einschalten können. Stattdessen knipste er das Deckenlicht an. Um 17 Uhr kam der Besuch. Schwester Tine und seine Mutter. Tine hatte eine rote Nase von der Kälte, wie sie sagte, und vom Schnupfen. Die Mutter überreichte ihm Plätzchen in einer Cellophantüte. "Habe ich selbst gebacken. Damit du an uns denkst."
"Tu ich auch so. Wo ist Papa?"
"Draußen im Auto. Er hat uns hergefahren, aber er wollte nicht mit." Mutter seufzte. "Du weißt doch, wie unwohl er sich letztes Mal gefühlt hat."
Er nickte. "Wie geht's Mopsi?"
"Hat letzte Woche in einen Schneeball gebissen", sagte Tine. "Da waren Steine drin. Der Tierarzt musste ihm zwei Zähne ziehen." Er nickte wieder und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Dass er den alten Hund mal vermissen würde, hätte er nicht für möglich gehalten.
Zehn Minuten später mussten sie gehen.
"Wünscht Papa ein Frohes Fest von mir", sagte er.
Tine schniefte in ihr Taschentuch und Mutter winkte zum Abschied. Er winkte zurück, bis sich die Tür hinter ihnen schloss.
Auf dem Weg nach oben probierte er die Plätzchen. Sie schmeckten anders als früher. Besser. Wahrscheinlich hatte seine Mutter eine neue Backmischung gekauft. Er legte die fast volle Tüte unter das Plastikbäumchen. Ins hinterste Eck, wo man sie nicht gleich sah.
Zum Abendessen gab es Schweinebraten und Gemüselasagne. Er nahm den Braten, Ronny die Lasagne. Der war ja auch Vegetarier.
Gleich nach dem Essen verabschiede er sich von Ronny. Die Weihnachtsansprache interessierte ihn nicht. Lieber ging er in seine vier Wände und verputzte die Plätzchen. Alle auf einmal. Morgen würden sie nicht mehr so gut schmecken. Dann legte er sich ins Bett.
Nach und nach kamen die anderen. Er hörte die Toilettenspülung nebenan, das Schließen der Türen. Um Punkt 22 Uhr ging das Licht aus. Er starrte in den Raum, konnte nicht schlafen. Die Strahlen der Scheinwerfer fielen durch das Fenster und hoben die Umrisse des Bäumchens aus dem Halbdunkeln. Auf Weihnachten hatte er nie Wert gelegt, dennoch hinterließ der heutige Tag Unzufriedenheit in ihm. Er nahm sich vor, das nächste Fest anders zu begehen. Und alles andere auch. Aber erst in 182 Tagen, wenn er rauskam.