Der Büchereulen-Adventskalender 2010

  • 21. Dezember 2010 von Alice Thierry


    Nächstes Jahr nicht wieder


    Es war nur ein kleines Bäumchen. Mit Nadeln aus Kunststoff und acht Zweigen. Er hatte sie beim Auspacken gezählt. Auf dem Plastikfuß stand "Made in China", aber immerhin waren elektrische Kerzen dran. Nur das Netzteil fehlte. Er hatte mehrmals in der Schachtel nachgesehen. Im Laden hatten sie keinen Ersatz, also blieb der Baum dunkel. Egal.
    Er stellte ihn auf den Schreibtisch vor die Fotografien. So konnte er ihn auch vom Bett aus gut sehen. In der Werkstatt hatte er aus Kupferdraht kleine Sterne gelötet. Die hatte er an die Zweige gehängt. Voilà ein Weihnachtsbaum, keiner wie bei den Eltern zu Hause, aber besser als nichts. - Er gefiel ihm trotzdem nicht.
    Als er vom Mittagessen kam, leuchtete die Sonne durchs Fenster und auf den Schreibtisch. So angeleuchtet sah das Bäumchen doch ganz nett aus.


    Eine halbe Stunde später, als er auf dem Bett lag und eine Zeitschrift durchblätterte, schaute sein Nachbar Ronny vorbei. "Fröhliche Weihnachten", sagte Ronny und lehnte sich an den Türstock. "Läuft nix in der Kiste?" Ronny deutet auf den Fernseher. "Der übliche Schrott wie jedes Jahr", antwortete er, ohne die Zeitschrift wegzulegen.
    "Kommste mit in den Gottesdienst?"
    "Nee, bin gleich nach dem Abi aus der Kirche ausgetreten. Und auf das Geheul vom Chor habe ich sowieso keine Lust." "Na denn." Ronny tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn. "Bis später."


    Nachdem Ronny gegangen war, legte er die Zeitschrift weg. Er kannte alle Artikel, bis auf die über Schwangere mit Schlafstörungen und das Sexualleben von Vampiren. Die interessierten ihn nicht. Um die Langeweile zu vertreiben, drehte er sich auf die andere Seite und versuchte zu schlafen.


    Um 16.30 Uhr war es so dunkel, dass er den Baum hätte einschalten können. Stattdessen knipste er das Deckenlicht an. Um 17 Uhr kam der Besuch. Schwester Tine und seine Mutter. Tine hatte eine rote Nase von der Kälte, wie sie sagte, und vom Schnupfen. Die Mutter überreichte ihm Plätzchen in einer Cellophantüte. "Habe ich selbst gebacken. Damit du an uns denkst."
    "Tu ich auch so. Wo ist Papa?"
    "Draußen im Auto. Er hat uns hergefahren, aber er wollte nicht mit." Mutter seufzte. "Du weißt doch, wie unwohl er sich letztes Mal gefühlt hat."
    Er nickte. "Wie geht's Mopsi?"
    "Hat letzte Woche in einen Schneeball gebissen", sagte Tine. "Da waren Steine drin. Der Tierarzt musste ihm zwei Zähne ziehen." Er nickte wieder und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Dass er den alten Hund mal vermissen würde, hätte er nicht für möglich gehalten.
    Zehn Minuten später mussten sie gehen.
    "Wünscht Papa ein Frohes Fest von mir", sagte er.
    Tine schniefte in ihr Taschentuch und Mutter winkte zum Abschied. Er winkte zurück, bis sich die Tür hinter ihnen schloss.


    Auf dem Weg nach oben probierte er die Plätzchen. Sie schmeckten anders als früher. Besser. Wahrscheinlich hatte seine Mutter eine neue Backmischung gekauft. Er legte die fast volle Tüte unter das Plastikbäumchen. Ins hinterste Eck, wo man sie nicht gleich sah.
    Zum Abendessen gab es Schweinebraten und Gemüselasagne. Er nahm den Braten, Ronny die Lasagne. Der war ja auch Vegetarier.
    Gleich nach dem Essen verabschiede er sich von Ronny. Die Weihnachtsansprache interessierte ihn nicht. Lieber ging er in seine vier Wände und verputzte die Plätzchen. Alle auf einmal. Morgen würden sie nicht mehr so gut schmecken. Dann legte er sich ins Bett.
    Nach und nach kamen die anderen. Er hörte die Toilettenspülung nebenan, das Schließen der Türen. Um Punkt 22 Uhr ging das Licht aus. Er starrte in den Raum, konnte nicht schlafen. Die Strahlen der Scheinwerfer fielen durch das Fenster und hoben die Umrisse des Bäumchens aus dem Halbdunkeln. Auf Weihnachten hatte er nie Wert gelegt, dennoch hinterließ der heutige Tag Unzufriedenheit in ihm. Er nahm sich vor, das nächste Fest anders zu begehen. Und alles andere auch. Aber erst in 182 Tagen, wenn er rauskam.

  • 22. Dezember 2010 von Leselusche


    Nummer 17 lebt!


    Der Dieter war ein Flusskrebs fein,
    sein Lebensweg war vorbestimmt.
    Er würde bald beendet sein,
    wenn jemand Nummer 17 nimmt.


    Ein Lehrling schaute in die krebsschen Augen,
    und er schaute wirklich tief.
    „Ich kann zu mehr als einer Mahlzeit taugen“,
    da plötzlich eine Stimme rief.


    Der Lehrling staunte gar nicht schlecht
    und sah sich das Tier genauer an.
    Also wirklich, alles, was ist Recht,
    ein Flusskrebs, der richtig sprechen kann?


    Der Krebs war's nicht,
    es war sein eigenes Gewissen.
    Und ihm ging auf ein Licht:
    „Ich werd ihn retten müssen!“


    Er nahm den Dieter mit nach Hause,
    das Scherenvieh zog in die Wanne ein.
    Der Lehrling machte erst mal Pause
    und ließ den Flusskrebs Flusskrebs sein.


    Am nächsten Tag ging's in die Freiheit,
    das Tier, das freute sich so sehr.
    Es planschte voller Heiterkeit.
    Der Lehrling blickte fröhlich hinterher.


    Nur einen diese Geschichte quälte,
    der bei der Weihnachtsfeier Schnitzel nahm,
    weil er die Nummer 17, die er wählte,
    aufgrund von Dieters Abgang nicht bekam.

  • 23. Dezember 2010 von Tom


    Das geht mir am Arsch vorbei


    "Hast du schon Geschenke gekauft?"
    Jochen blickt auf und hält in der Bewegung inne. Das Nutellamesser hängt für ein paar Sekunden über dem Brot in der Luft. "Für wen?"
    "Na, für Weihnachten."
    Er zieht seine rechte Augenbraue hoch, Jutta verzieht das Gesicht, weil sie es hasst, wenn er das tut. Dieser mimische Kommentar ist so arrogant, so überheblich. Sie schaut zu, wie das Nutellamesser auf dem Brot landet.
    "Weihnachten geht mir am Arsch vorbei", sagt er lächelnd. "Das weißt du doch."
    "Aber mir nicht."
    "Dein Problem." Er zieht eine abschließende Spur über die Schnitte, legt das Messer auf den Teller und nimmt einen großen Bissen. Auf seiner Oberlippe bleibt eine wellenförmige Nussnougatcremespur zurück.
    Jutta seufzt. Sie schaut ihrem Mann zu, wie er mit großem Genuss die Scheibe Brot vertilgt, dann einen langen Schluck Kaffee hinterhergießt, die Nutellareste von der Oberlippe leckt und schließlich nach der "Elf Freunde" greift.
    "Du könntest das mal für mich tun."
    Wieder die Augenbraue. "Mal. Für dich. Als täte ich nie etwas für dich."
    "Und was?"
    Jetzt seufzt Jochen. "Ich gehe deinetwegen in vegetarische Restaurants, habe deinetwegen mit dem Rauchen aufgehört, schlafe deinetwegen bei gefühlten Minus zwanzig Grad, trainiere deinetwegen zweimal in der Woche zwischen lauter Hirntoten in der Muckibude, fahre deinetwegen nicht mehr Motorrad, schlucke deinetwegen morgens Magnesiumtabletten, wohne deinetwegen weit entfernt von allen Plätzen, an denen spannende Dinge passieren, absolviere deinetwegen einen Italienischkurs, trinke deinetwegen nur noch am Wochenende Bier. Soll ich weitermachen? Das könnte noch Stunden so gehen."
    Er hebt die Zeitschrift an.
    "Das tust du zwar meinetwegen, aber du tust es für dich", sagt sie und lächelt.
    "Für mich?", fragt er ins Knistergeräusch der herabsinkenden Zeitschrift.
    "Ja, für dich. Wenn du immer noch täglich ein halbes Schwein essen, zwei Schachteln Zigaretten rauchen, in einer Sauna schlafen, dich nicht bewegen, ständig in vermieften Clubs herumhängen, andauernd Motorradunfälle bauen und zehn Liter Bier trinken würdest, sähest du jetzt schon aus wie dein Vater. Und du weißt, wie dein Vater aussieht."
    Jochen grinst. "Aber ich würde mich wohler fühlen. Ich hätte mehr Spaß."
    Jutta steht auf und geht aus der Küche. Als sie zurückkehrt, ist Jochen wieder mit der Fußballzeitschrift beschäftigt.
    Sie legt ein Fotoalbum neben seinen Teller.
    "Vierte Seite", sagt sie und setzt sich wieder.
    Jochen hebt das Magazin über seinen Kopf und schaut darunter hindurch zum Fotoalbum. Es war das letzte, das sie angelegt haben, im Jahr 2002. Danach entstanden nur noch digitale Bilder, die auf Jochens Rechner unbetrachtet endlagern.
    Er zieht die Augenbraue hoch.
    "Lass das!", zischt sie.
    Jochen zwinkert, lässt die Augenbraue sinken. "Das ist acht Jahre alt."
    "Schau es dir an."
    Er atmet geräuschvoll aus, legt die Zeitschrift hin und schlägt das Album auf. Auf Seite vier finden sich Fotos vom damaligen Sommerurlaub, zelten in Istrien. Zwei Fotos zeigen Jochen in der Badehose, mit Fluppe in der einen und Bierdose in der anderen Hand. Obwohl die Bilder alles andere als gestochen scharf sind, sind seine Fettleibigkeit und die Unreinheit seiner schwammigen Gesichtshaut gut zu erkennen.
    "Gleich danach hast du meinetwegen mit dem Rauchen und dem Saufen aufgehört, ein Jahr später hast du meinetwegen mit dem Sport angefangen. Jetzt schau dich im Spiegel an."
    Jochen murmelt etwas und schlägt das Album zu.
    "Was?"
    "Ich hatte Stoffwechselprobleme", wiederholt er lauter.
    Jutta lacht. "Dein Stoffwechsel hatte mit dir Probleme. Du hattest zwölf Kilo Übergewicht, hast morgens eine halbe Stunde lang gehustet und abends nicht mehr gewusst, auf welchem Planeten du lebst."
    "Du übertreibst", sagt er leise.
    "Nein. Ich liebe dich, das ist alles."
    Jochen starrt seine Frau an, und während er das tut, verändert sich sein Gesichtsausdruck deutlich. Jutta muss schlucken. Es ist einer dieser Momente, in denen sie die Liebe, die sie für ihren Mann empfindet, beinahe anfassen kann.
    "Ich weiß", sagt er, noch leiser. "Ich liebe dich auch. Und du hast ja recht."
    Jutta zieht die Nase kraus, auch, um gegen die Rührungstränen anzukämpfen. "Darum geht es nicht."
    "Ich weiß", wiederholt er und lächelt dabei.


    Es klingelt zum zweiten Mal, Jutta bleibt trotzdem noch einen Moment lang im Wohnzimmer stehen und lässt einen prüfenden Blick durch den Raum schweifen. Der Baum ist sehr schön, ganz in weiß und silber. Der Sprühschnee an den Fensterscheiben ist vielleicht einen Tick zu kitschig, aber sie mag die Atmosphäre, außerdem sind fünfzehn Grad über Null und es nieselt. Die alte Weihnachtsdecke von ihrer Mutter ist schon ziemlich ausgeblichen, aber mit den roten Kugeln und dem kleinen Ethanolkamin darauf wirkt es ungemein heimelig. Jutta geht zum Schrank und tippt auf den iPod. Weihnachtsmusik erklingt. Sie lächelt und geht in den Flur, wo es nach Kaffee, Gänsebraten und Glühwein duftet.
    "Und? Was macht Jochen dieses Mal? Geht er zum Bowling? Oder versackt er wieder nur in irgendeiner Kneipe?"
    Jutta zuckt die Schultern und nimmt ihrer Schwester den Mantel ab. Marius und Sidney, Juttas Neffen, stehen auf der Schwelle und schauen missmutig drein. Sie sind dreizehn. Jutta empfindet großes Verständnis dafür, dass sie sich struppig geben. Mit dreizehn hat sie Familienfeste auch gehasst.
    "Ihr könnt nach oben gehen, Jochen ist nicht da, und er hat das neue Gran Turismo auf seiner Playstation."
    Die Bewegungen der beiden sind kaum wahrzunehmen, so schnell haben sie die Anoraks ausgezogen, sind an den Schwestern vorbei und poltern die Treppe hinauf. Jochen hat nicht nur eine PS3, sondern auch einen mannshohen Plasmafernseher in seinem "Arbeitszimmer".
    "Kommt Papa?", fragt Silke.
    "Vielleicht später. Du kennst ihn."
    Silke antwortet nicht, stattdessen seufzt sie. "Ist schon eine komische Familie", sagt sie ein paar Sekunden später.
    Jutta lächelt. "Alle Familien sind komisch."


    "Warum hasst er das Fest so sehr?", fragt Silke und nippt an ihrem Glühwein.
    Die Schwester schließt kurz die Augen. "Er findet es unehrlich, aufgesetzt, einfach blöd. Reiner Konsumrausch. Außerdem ist er energischer Atheist."
    "Na und? Wir beide glauben doch auch nicht an Gott."
    "Jochen ist so gerne konsequent. Oder er behauptet das so gerne von sich."
    "Er ist ein Prinzipienreiter, willst du damit sagen."
    Jutta zuckt die Schultern und grinst. "So kann man es auch nennen."
    Ein leichtes Donnern ist von oben zu hören.
    "Dolby Surround", beantwortet Jutta Silkes mimische Frage.
    "Und ich muss dann wieder wochenlang erklären, warum wir uns solches Zeug nicht leisten können", sagt Silke und seufzt theatralisch.


    Zum Essen lassen sich die Jungs widerwillig blicken, scharren aber unter dem Tisch mit den Füßen. Als "Last Christmas" erklingt, verdrehen sie unisono die Augen.
    "Ich kann's auch nicht mehr hören", sagt Jutta. Es klingelt.
    "Das wird Papa sein."
    "Kommt, wir begrüßen ihn gemeinsam", befiehlt Silke.


    Draußen ist niemand, aber unter dem Vordach hat jemand Geschenke gestapelt, darunter eine riesige Kiste, die sehr schwer aussieht.
    "Papa?", ruft Jutta, doch niemand antwortet.
    Marius und Sidney stürmen zu den Geschenken. "Hier steht unser Name drauf!", ruft Marius und rüttelt am größten Geschenk. Der Kasten reicht ihm fast bis zur Schulter. "Scheiße, ist das schwer."
    "Du sollst nicht Scheiße sagen", schimpft Silke.
    "Kacke, ist das schwer."
    "Und Kacke auch nicht."
    "Lass doch, ist schließlich Weihnachten", sagt Jutta.
    "Da erst recht."
    Die große Kiste hat ein so hohes Gewicht, dass sie es nicht schaffen, sie ins Haus zu tragen.
    "Wir machen das", sagt plötzlich eine Männerstimme.
    "Papa!", rufen die Schwestern und umarmen ihren Vater nacheinander. "Ist das von dir?"
    Er schüttelt den Kopf und zeigt auf den kostümierten Weihnachtsmann neben sich, der außerdem eine Plastikmaske trägt. Der Vater von Silke und Jutta hat unter dem offenen Mantel einen roten Wollpulli an, auf den ein Rentier gestickt ist.
    "Nein, das ist natürlich vom Weihnachtsmann", antwortet er lächelnd.
    Jutta verzieht das Gesicht. "Für die Jungs hättest du keinen Studenten engagieren müssen. Die wissen längst, dass es keinen Weihnachtsmann gibt."
    "Und keinen Klapperstorch", ergänzt Silke und verdreht dabei die Augen.
    Der Vater nickt, auch in Richtung des Weihnachtsmannes, und die beiden heben die große Kiste an. Stöhnend schleppen sie das Riesending ins Wohnzimmer.
    Es ist ein superflacher LED-Fernseher. Passend zur Playstation, die sich in einem anderen Paket befindet.
    "Papa! Das ist doch viel zu teuer", schimpft Silke und zwinkert eine Rührungsträne weg.
    "Das ist vom Weihnachtsmann", sagt der Vater abermals und blickt zu dem verkleideten Mann, der in der Tür steht.
    "Danke, Weihnachtsmann", sagt Silke. Die beiden Jungs wiederholen die Formel und starren anschließend weiter fassungslos auf das teure Gerät. Der Weihnachtsmann nickt und verschwindet dann wortlos.
    "Das ist für dich", erklärt der Vater und reicht Jutta ein flaches, schweres Päckchen.
    "Erst am Morgen des 25. zu öffnen", liest die Tochter von einem Schildchen vor.


    Jochen hat noch am Frühstückstisch eine Fahne. Er ist um drei Uhr morgens nach Hause gekommen, wie Jutta sehr wohl bemerkt hat, aber immerhin hat er im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen. Jetzt sieht er ziemlich zerknittert aus, seine Augen sind leicht gerötet und seine Nutellamesserhand flattert. Sie weiß, dass er sich in diesem Zustand schämt. Das mag sie gerne, es ist eine Mischung aus Schadenfreude, Fürsorge und Verständnis, was sie dabei empfindet. Jutta ist froh, dass Jochen seine selbstzerstörerischen Triebe ihretwegen eingedämmt hat, aber sie will auch keinen Jesuiten im Haus haben.
    "Na, gefeiert?", fragt sie grinsend.
    "Mmh - mmh", gibt er zurück. Er blinzelt und bekommt mit dem Messer schließlich eine Easyjet-Landung hin: Hauptsache, unten. "Es war, um ehrlich zu sein, ein bisschen langweilig. An Heiligabend sind nicht viele nette Leute unterwegs."
    Sie lacht. "Aber immerhin gab's Bier."
    Er nickt bedächtig. "Ja, Bier gab es durchaus." Jochen zieht kurz die Stirn kraus, verzichtet aber, wie sie wohlwollend zur Kenntnis nimmt, auf die hochgezogene Augenbraue. "Und wie war es hier?"
    Jutta lehnt sich zurück und wirft einen Blick auf ihr Geschenk, das eingepackt auf dem Frühstückstisch liegt.
    "Das weißt du doch", sagt sie. Jutta ist sich nicht sicher, aber sie kann nicht glauben, dass ihr Vater diese teuren Geschenke gekauft hat, zumal dieser nicht einmal dazu in der Lage ist, einen Computer von einem Klammeraffen zu unterscheiden. Nach dem Ausschlussprinzip bleibt also nur Jochen als potentieller Weihnachtsmann übrig. Der Mann mit der Maske.
    "Weiß ich das?", fragt er gekünstelt erstaunt zurück, kann aber das kurze Lächeln nicht unterdrücken, selbst mit seinem Zwanzig-Biere-Gesicht.
    Jutta zieht eine Augenbraue hoch, versucht es wenigstens. Dann nimmt sie das Geschenk und packt es langsam aus. Jochen kaut derweil auf seiner Nutellastulle herum und tut so, als ginge ihn all das überhaupt nichts an. Als ginge es ihm am Arsch vorbei.
    Es ist ein Fotobuch, aber keines von diesen Billigdingern, sondern ein hochwertiges, großformatiges. Das Cover ist eher schlicht - weiß, darauf ein kleines, auf alt getrimmtes Bild. Eines aus jenem Istrien-Urlaub, es zeigt Jochen schlafend auf einer Klappliege, und sein Bauch nimmt einen Gutteil des Fotos ein. Das Buch ist mit "Katharsis" betitelt.
    Es enthält Profi-Fotografien ihres Mannes. Portraits, Ganzkörperaufnahmen, Jochen in diversen Outfits, Aufnahmen, die im Studio gemacht wurden und solche, die ihn in Parks, am See, sogar im coolen Radleranzug auf dem Mountainbike zeigen. Auf den letzten Seiten wird es auf sehr geschmackvolle Weise schlüpfrig. Und aufregend, wie Jutta, die den Tränen nahe ist, zugestehen muss. Sie legt das Buch auf den Frühstückstisch und schnauft, um nicht vor Glück loszuheulen.
    "Da ..." Sie will eigentlich danke sagen, aber Jochen legt ihr in einer verblüffend flinken Bewegung einen Zeigefinger auf die Lippen.
    "Nein, du musst dich nicht bedanken. Das muss ich tun. Danke." Er steht auf und umarmt sie. Er riecht nach Kneipe und Schweiß, aber das macht ihr nichts aus.
    "Und?", fragt sie nach einer Weile, als sie sich wieder gefasst hat. "Geht dir Weihnachten jetzt nicht mehr am Arsch vorbei?"
    Jochen lächelt und deutet eine Mischung aus Nicken und Kopfschütteln an. Auch die Augenbraue hebt sich, aber nur sehr kurz und auch nur für ein oder zwei Millimeter.
    "Doch, schon", sagt er dann. "Aber, weißt du. Wenn so etwas den Menschen glücklich macht, den man aus sehr guten Gründen über alles liebt, kann auch ein Prinzipienreiter wie ich mal 'Fröhliche Weihnachten' sagen."

  • 24. Dezember 2010 von churchill


    Advent ist rum


    Advent ist rum. Mit letzter Kraft
    sind alle Einkäufe geschafft.
    Der Baum, er steht. Die Krippe auch.
    Alles bereit für Herz und Bauch.
    Für sieben Kinder, Frau und Hund
    Geschenke klar. Die Füße wund.
    Das Geld ist weg. Es ist soweit.
    Oh gnadenreiche Weihnachtszeit.


    Nicht falsch verstehn: Ich find das toll.
    Advent – die Zeit ist eben voll
    von vielen wirklich schönen Dingen,
    von Plätzchenduft und Liedersingen,
    von jener Suche nach Geschenken,
    von „an die armen Leute denken“,
    Advent ist rum. Ich bin bereit.
    Ja freue dich, oh Christenheit.


    Am Vormittag des Heilgen Abend
    find ich es irgendwie erlabend,
    mal kurz mit mir allein zu sein.
    Ich schließ mich in der Kirche ein
    und atme durch. Genieß die Ruh.
    Ich red mit mir und hör auch zu.
    Und dann. Ich kann’s nicht recht verstehn,
    sind andre Leute dort zu sehn.


    Die Tür hab ich wohl abgeschlossen,
    doch sitzt da stur und unverdrossen
    ne Frau. Sie wirkt nicht gerade schüchtern
    und irgendwie auch nicht ganz nüchtern.
    Jetzt steht sie auf und malt, o Mann,
    die Weihnachtskrippe rötlich an.
    Sieht nicht schlecht aus, was ich da seh.
    Sie sagt, sie heißt Tamara W…


    Von links naht lächelnd eine Frau,
    sie tut, als kennt sie mich genau,
    und meint, ich hätte doch so gern
    an jedem Tag nen Weihnachtsstern.
    Ich komm mir vor wie ein Idiot
    und werde wohl ein bisschen rot.
    Sie lacht so glockenhell voll Charme.
    Mir wird es hier und da ganz warm.


    Dort in der Ecke sitzt ein Mann.
    Ganz feierlich schaut er mich an.
    Und spricht: Ich mag das Kerzenlicht.
    Es wärmt. Es lebt. Es quält mich nicht.
    Und keiner bläst es einfach aus.
    Im nächsten Jahr komm ich dann raus.
    Das nächste Weihnachtsfest wird froh.
    Bis dann – in dulci jubilo …


    Ob ich wohl noch ganz richtig bin?
    Man könnte meinen, dass ich spinn …
    Ich atme durch. Jetzt Schluss. Von wegen …
    Da springt ein Typ, gezückt den Degen,
    übern Altar – ein toller Trick,
    gefolgt von nem gewissen Nic,
    der Mantel grün, die Stiefel rot,
    sie faseln was von einem Boot,


    in dem wir schließlich alle sitzen.
    Ich nicke dumm, beginn zu schwitzen,
    da höre ich ein wildes Heulen
    von zehn ganz schlauen Büchereulen,
    die nach und nach sich dezimieren
    und wieder aus dem Raum spazieren.
    Was bleibt? Glaubt mir, das ist kein Märchen:
    Ne Wolke und ein Gummibärchen …


    Ob mir das irgendjemand glaubt?
    Da trifft mich etwas hart am Haupt:
    Ein Junge schwenkt das Weihrauchfass
    Und spritzt mit Weihwasser mich nass.
    Kann dieser Bengel etwas taugen?
    Aus den zweifachverglasten Augen
    schaut er recht hochbegabt und froh:
    „Ich find dich nett. Ich mein’s nicht so …“


    Dort an der Kanzel startet schon
    eine ganz heiße Diskussion.
    So dialektisch durcheinander:
    Madeleine, Allegra und Leander
    und ein gewisser Konstantin.
    Ich möchte aus der Kirche fliehn.
    Da springen sie ganz unverzagt
    direkt zum nächsten Weihnachtsmarkt.


    Ich bleib zurück. Ein Stück verwirrt.
    Sie hatten sich wohl leicht verirrt
    und nach Revolution gesehnt -
    Schaut mal, wer da am Beichtstuhl lehnt.
    Der ist da eben rausgekrochen.
    Gestatten, spricht er, ich heiß Jochen
    und mir geht ja, ich bin so frei,
    das Weihnachtsfest am Arsch vorbei.


    Aus einem ganz bestimmten Grund
    klebt ihm Nutella noch am Mund,
    Dazu ein Zwanzig-Bier-Gesicht,
    so einer feiert Weihnacht nicht.
    Am Arsch vorbei. Das ist kein Scherz.
    Doch siegt an Weihnachten das Herz.
    Wenn’s andere Menschen glücklich macht,
    gibt keiner auf den Arsch mehr acht …


    Solch anatomische Gedanken
    bringen mein Hirn schon sehr ins Wanken.
    Noch kann die Nerven ich nicht schonen,
    da gibt’s nämlich noch mehr Personen,
    die mich im Kirchenraum begleiten
    mit ihren kleinen Kostbarkeiten.
    Warum gehn hier im Gotteshaus
    die Kerzen eigentlich nicht aus?


    So frag ich mich. Und seh ein Paar,
    dass da vorhin bestimmt nicht war.
    Und dieses alte Paar entzündet
    wohl jede Kerze, die es findet.
    Sie sind mir irgendwie bekannt.
    „Wir kennen uns aus Feuerland“,
    spricht er. Und sie ergänzt sofort:
    „Sie sind nicht oft an jenem Ort“.


    Sie haben Recht. Ich bin dort selten,
    das darf als Ausrede nicht gelten.
    Ich will gleich gehen, Feuer machen …
    Da höre ich ein helles Lachen.
    „Stop“, sagt die Frau. „Geh jetzt noch nicht,
    du schreibst doch manchmal ein Gedicht?“
    Das stimmt. Woher sie das wohl weiß?
    Sie stellt sich vor und lächelt leis.


    „Man nennt mich Mia und ich denk,
    das allerschönste Festgeschenk,
    soll sich ein jeder selber machen!“
    Ich schau recht dumm. Da muss sie lachen.
    „Schreib ein Gedicht. Für dich allein.
    Es soll nicht für die andern sein.
    Verstell dich nicht. Nutz dein Talent.
    Sei so, wie dich sonst niemand kennt.


    Schreib auf, was all jene Personen,
    die heut in dieser Kirche wohnen,
    dir für dein Leben sagen können.
    Du darfst dir diesen Luxus gönnen.
    Nun los. Die Kinder und die Frau
    erwarten dich. Ich weiß genau:
    Sie freuen sich, wenn sie dich sehn.
    Drum freu dich auch. Jetzt darfst du gehn.“


    Ich lenke langsam meine Schritte
    durchs Kirchenschiff. Ab durch die Mitte.
    Und da ganz hinten, an der Tür,
    begegne ich schlussendlich IHR.
    In rotem Minikleid und blond,
    sie tänzelt langsam und gekonnt,
    mir wird ganz heiß und überdies
    trägt sie so geile Overknees.


    Für deren Absätze, o nein,
    benötigt sie nen Waffenschein!
    Der Po schwingt leicht, die Brüste wippen,
    sie kommt ganz nah, öffnet die Lippen –
    da fang ich an, sie wild zu küssen.
    Dass Weihnachtsfrauen schweigen müssen,
    hab ich zum Glück erst jüngst gelesen!
    So küss ich dieses süße Wesen.


    Und gehe dann ganz lieb nach Haus?
    Ich packe die Geschenke aus,
    ob hier ob dort, geht’s euch was an?
    Ich bin ein braver Ehemann.
    Ein Vater auch. Drum, liebe Leute,
    wünsch ich nun allen Eulen heute
    ein frohes Fest. Es ist soweit.
    Advent ist rum. ’s ist Weihnachtszeit …