Jess Jochimsen – Bellboy oder: Ich schulde Paul einen Sommer
Verlag: dtv
TB: 236 Seiten
Inhalt
Vergessen ist geil! Keinen Liebeskummer mehr, keinen Kindheitsschmerz, keine Jugendpeinlichkeiten. Lukas, der ein trostloses Dasein als Kirchendiener und Glöckner in München fristet, hat mit viel Mühe seine Familie und die ganze Bagage in der Provinz vergessen und poppt munter die Mütter seiner Nachhilfeschüler. Bis Paul auftaucht, sein Cousin, der an einer frühen Form der Demenz leidet - und alles sofort vergisst. Ein zynisches, witziges, trauriges Plädoyer für das Leben im hier und jetzt. Und für das Brechen aller zehn Gebote, für spontane Kanzlerbesuche und das versenken von Ausflugsschiffen...
Autor
Jess Jochimsen wurde 1970 in München geboren. Er studierte Germanistik und Politologie. Seit 1995 absolvierte er über 600 Gastspiele als Kabarettist auf allen bekannten Bühnen Deutschlands. Ausgezeichnet u.a. mit dem „Deutschen Kabarett Preis“, dem „Passauer Scharfrichterbeil“ und dem „Prix Pantheon“. Jess Jochimsen lebt in Freiburg und schreibt eine regelmäßige Kolumne in der Frankfurter Rundschau.
Meinung
Paul trat in mein Leben wie ein Hautausschlag. Wie eines dieser Ekzeme, die ich als Kind öfter hatte, wenn es besonders heiß war im Sommer. Urplötzlich bekam ich dann Pusteln am linken Oberarm, ich bemerkte es erst gar nicht, und auf einmal waren sie da, kleine rote Pusteln mit weißen Knöpfen, sie breiteten sich aus zu einem handtellergroßen Feld und juckten.
Lukas wird von seiner Vergangenheit eingeholt, nicht nur durch ein Ekzem, auch die Familie, die er bisher erfolgreich aus seinem Leben verbannt hat, macht sich lautstark bemerkbar.
Mit der Familie kommen auch die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend auf dem bayrischen Lande zurück. Und die möchte Lukas am liebsten weit hinter sich lassen.
Er hat es sich gemütlich gemacht in einem neuen Leben in der Großstadt, hat sich Freunde gesucht, die zu ihm passen und einen Job, der nicht viel von ihm fordert. Hier mal eine Frau, da mal eine Frau, keine Beziehung. Alles locker und lässig.
Und doch wird Lukas sehr schnell klar, dass man weder seine Erinnerungen und noch seine Familie ausblenden kann. Vergessen hingegen kann man schon - wenn man so krank ist wie Paul, Lukas Cousin.
Auch die beiden haben eine Rechnung miteinander offen, die weit in Lukas Jugend zurückreicht, und die Lukas nicht immer ins rechte Licht rückt und ihm mehr als ein schlechtes Gewissen verursacht.
Die beiden kommen sich näher als je zuvor – für kurze Zeit, und Lukas begibt sich auf die Suche nach der Ursache von Pauls Vergessen, und wird fündig.
Jess Jochimsen hat einen warmherzigen Roman geschrieben, über Freundschaft, Verantwortung und die starken Bande der Familie. Seine Figuren behandelt er mit großem Respekt und voller Sympathie, der Leser wiederum spürt, wie viel ihm die einzelnen Personen wert sind.
Bellboy oder: Ich schulde Paul einen Sommer ist ein Buch mit Humor – wie soll es auch anders sein, Jess Jochimsen ist Kabarettist – und grandiosen Einfällen, mit viel Tiefgang und einem sicheren Blick in das Innerste seiner Figuren, nämlich auf das, was ihnen am liebsten selbst gerne verborgen geblieben wäre.
Er schont niemanden, nicht den Leser und nicht seine Protagonisten, aber der Leser und auch die Figuren, besonders Lukas, der Ich-Erzähler, gehen mit einem neuen, einem guten, einem hoffnungsvollen Gefühl aus der Handlung.